164. Vorstellung. Neueinstudierung: Angela Brandt
Regie: Harry Kupfer (1935-2009)
Ein Abend des musikalischen Wiedererkennens und Erinnerns. Harry Kupfers dem Realismus verschriebener Regie, die Personenführung gepaart mit dem praktischen und eher unromantischen Bühnenbild von Reinhart Zimmermann ergaben einen Abend des fast puren Operngenusses. Fast – weil Carlo Goldstein meinte, er müsse Kupfers Regie durch ein erdiges und oft sehr deftig-lautes Dirigat betonen. So ging die zauberhafte Kennenlernszene von Rodolfo und Mimi im Getöse des Orchesters unter. Anett Fritsch als Mimi und Giorgio Berrugi als Rodolfo hatten große Mühe, ihre Stimmen über den Orchestergraben hinwegzutragen. Beide passen in die Rollen stimmlich und schauspielerisch gut, wenn das Orchester ihnen die Möglichkeit lässt, ihr Können zu beweisen.
Harry Kupfers Regiekonzepte waren dem Realismus eines Bert Brecht verpflichtet: Gutes, solides Bühnenbild, keine Extravaganzen in der Interpretation, sondern immer dem Werk treu ergeben. Ein Parsifal im Gefängnis – wie man ihn letztens in der Staatsoper in Wien zu sehen bekam – wäre ihm nie in den Sinn bekommen. Seine Figuren sind, was der Komponist in sie hineinkomponierte: Menschen, und keine Metafiguren. Daher musste sich der Zuhörer nie mit sonderbaren Regieeinfällen plagen und darüber die Musik „überhören“. Deshalb sorgt die Wiederaufnahme der Bohème für ein fast „neues“, weil seit Jahren nicht mehr erlebbares – Opernerlebnis: Einfach dem Komponisten und dem Regisseur zuhören, was er uns erzählt: Das Leben von jungen Leuten, die auf die Borugoisie pfeifen, nichts ernst nehmen, bis dann das Leben sie ernst nimmt. So greift Kupfer im 2. Akt in die volle Lebenslust, lässt Kinder, Gaukler und Menschen tanzen, singen, um dann im 3. Akt die trübe Wirklichkeit um so stärker wirken zu lassen. Unromantisch und sehr realistisch beschließen Mimi und Rodolfo nicht im Winter sich zu trennen, sondern erst im Frühjahr, wenn die ersten Blüten den Schmerz mildern. Und ganz schnörkellos und schlicht stirbt Mimi. Fast unbemerkt. Kein Tränendrama, sondern harte Realtiät.
Gespielt und gesungen wird von dem Ensemble mit großem Einsatz, wenn der Dirigent ihnen die Chance gibt. Neben den beiden Protagonisten fallen Lauren Urquhart als Musetta und Andrei Bondarenko als Marcello stimmlich und schauspielerisch auf. Leider kam die berühmte „Mantelarie“ des Colline (Aaron Pendleton) zu unspektakulär über die Bühne. Die in ihr enthaltene Gesellschaftskritik blieb ungehört. Zusammenfassung: Ein wichtiger Abend, der so manche Regisseure an ihre eigentliche Aufgabe erinnern sollte: Nicht die Egomanie mit unverständlicher und skandalträchtiger Regie befriedigen, sondern dem Werk und der Musik sich unterordnen!