Aus dem Italienischen von Katharina Schmidt und Barbara Neeb

Edna, eine 89jährige Frau, verlässt ihr Heim und macht sich mit ihrem Papagei Emil auf, um in Ravensburg, das viele Kilometer weit im Norden liegt, ihren Freund Jakob aus der Kindheit zu suchen. Der Weg ist lang und beschwerlich, eigentlich unmöglich für Edna zu bewältigen. Sie ist viele Tage unterwegs, wird bestohlen, reist dennoch ohne Geld weiter, findet immer wieder freundliche Menschen, wie Hippies, Esoteriker, Motorradfahrer, die ihre weiterhelfen. Mit Emil in der Transportkiste wird sie da und dort fotografiert, wird berühmt. Als sie in Ravensburg ankommt, ist ihr Freund am Vortag verstorben. Aber ihr Lebenswille bleibt ungebrochen.

In abwechselnden Kapiteln erzählt die Autorin von der unwahrscheinlichen Wanderung Ednas und alternierend dazu von ihrer Kindheit als Schwabenkind. So nannte man all die vielen Kinder, deren Eltern aus Not sie zu reichen Bauern in den Norden zum Arbeiten und Geldverdienen schickten. Viele überlebten diesen „Sklavendienst“ nicht und starben. Jakob und Edna arbeiteten auf demselben Hof. Mit Emil im Tragkorb wollten sie gemeinsam von diesem Schreckensort, den Knechten und dem Großbauer fliehen. Edna gelingt es, doch sie lässt in ihrer Angst Jakob im Stich. Der wird gefangen genommen, kann aber alles überstehen und später eine Familie gründen. Edna und Jakob – eine Kinderfreundschaft in harten Zeiten – ein gutes Thema, aber leider zu langatmig und streckenweise unglaubwürdig. Immerhin – das Thema der „Schwabenkinder“, die Fronarbeit auf fremden Bauernhöfen leisten mussten, wird ziemlich eindringlich geschildert.

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Wer ein Buch von Steinfest in die Hand nimmt, weiß, auf welch Bocksprünge an Ideen, Figurenbeschreibung, Wechsel im Stil und Zeiten -kurz auf ein Maximum an Erzählkapriolen – er sich einlässt.

In diesem Roman übertrifft er sich selbst, liefert dem Leser Reales. scheinbar echte Wirklichkeiten, mit schier Unmöglichkeiten. Schon allein eine Buchhandlung irgendwo auf einem Berg im oberösterreichischen Salzkammergut auf 1.700 Meter Höhe ist eine echte „Schnapsidee“, Die Besitzerin Katharina braucht auch, um in der Wintereinsamkeit überleben zu können, jeden Abend ihren Cognac. Sie ist keineswegs eine Trauersuse, im Gegenteil, packt an, wo es notwendig ist. So zum Beispiel, wenn sie auf ihren einsamen Winterskitouren einen fast erfrorenen Mann findet. Den schleppt sie gegen seinen Willen kurzerhand in ihre Buchhandlung, taut ihn auf und befiehlt ihm zu leben. Was der eigentlich gar nicht wollte, er wollte sterben. Weiß aber nicht, warum. Im Laufe der Erzählung wird ihm bewußt, wer er ist und daß er große Schuld auf sich geladen hat. Er fuhr sturzbetrunken auf der eisigen Straße, der Wagen überschlug sich und seine mitfahrende Tochter war tot. Er hat überlebt, sich irgendwie halb bewußtlos auf den Berg geschlichen, um zu sterben. Katharina nennt ihn Robert, befiehlt ihm zu kochen. Nebenbei entpuppt sich er sich als genialer Schneebildhauer. Er formt die Bergspitze, die sich irgendwie wie ein betrunkener Berg zu verändern scheint. Ein weiterer Pflegefall stellt sich ein und wird von Katharina gesund gepflegt: Die Bergdohle Sharp. Sie wird am Schluss die in einer Höhle Eingeschlossenen durch ihre Rufe und Hinweise retten. Wie im Märchen müssen es ja immer drei Personen sein – in diesem Fall gesellt sich noch die Schnee- und Lawinenforscherin Linda zu den beiden und bleibt. Platz ist genug in der Bücherbude. Im nahen Schutzhaus sind genug Vorräte. Das Leben wird gemütlich. Doch nicht so bei Steinfest! Das Bücherhaus rutscht bei einem Schneesturm in eine darunterliegende Höhle. Katharina und Linda sind eingesperrt. Sharp und Robert, nun heißt er Max, retten die beiden.

Als unnötige, eher als manieristisch-modische Kapriole entpuppt sich der Roman im Roman über einen Priester, der vor mehr als 100 Jahren mit einer Fotografin den Berg bestieg und unter Lebensgefahr das Gipfelkreuz angebracht hat.

Ein heitere Roman? Schon, aber nicht nur. Denn es geht um Schuld, wie man damit fertig werden kann. Sowohl Robert-Max als auch Katharina haben ein Menschenleben auf dem Gewissen.

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Sergio del Molino, Leeres Spanien. Wagenbach Verlag

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

Sergio del Molino arbeitete als Journalist für die spanische Zeitung „Heraldo di Aragon“. und war viele Jahre im „leeren Spanien“ unterwegs. Besonders im Ebrobecken, in der Meseta und in der Mancha sind die Dörfer leer, entvölkert. Die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte -vor allem in den Umraum von Madrid – hatte zur Folge, dass 84 % der Bevölkerung heute in den Städten lebt und nur 15% im leeren Spanien. Wenn die Jungen keine Arbeit im ländlichen Raum fanden, wanderten sie in die Städte .- ein Phänomen, das nicht nur in Spanien virulent ist. Als Spanien 1986 der EU beitrat, die ländliche Bevölkerung aber keine Förderungen bekamen, kam es zu bürgerkriegsartigen Bewegungen und man begann sich in Politik und Wissenschaft mit dem Problem zu beschäftigen. Auch dieses Buch – so vermerkt der Autor in der Einleitung – hat an der Bewusstwerdung der Probleme einen großen Beitrag geleistet.

Unter dem Francoregime hatte man nur Verachtung für die ländliche Bevölkerung, konstatiert del Molino. Im „leeren Spanien“ wurden Atomkraftwerke geplant und umweltschädliche Uranminen errichtet. Im Umraum von Madrid entstanden Elendsviertel.

Ein ausführliches Kapitel widmet der Autor dem „Mythos der leeren Landschaft“, gefördert durch das plötzliche Interesse der Städter, die sich ähnlich wie einst Don Quijote auf die Suche nach einer Idylle aufmachten. Eine Suche, die sich nicht realisieren ließ. Noch heute belustigen sich die wenigen Bewohner der Mancha über die Reisenden, die „auf den Spuren Don Quijotes“ durch das leere Land ziehen. Das Verlorensein in einer scheinbar endlosen Weite fasziniert Romantiker, ändert aber nichts an der Lage der Bevölkerung.

Seit Erscheinen dieses Buches 2016 hat sich – so der Autor im Vorwort – doch einiges bewegt. Der Autor hat keine Problemlösungen parat, aber indem er aufzeigt, welche soziale und wirtschaftlichen Folgen die entleerten Landschaften haben, wird zumindest über Lösungsmöglichkeiten nachgedacht.

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Tiziano Scarpa: Stabat mater. Wagenbach Verlag

Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth

Cäcilia lebt seit ihrer Geburt im „Ospedale della Pietà“, einem der Waisenhäuser Venedigs. Sie weiß nicht, wer ihre Mutter ist, die sie als Säugling vor dem Tor des Ospedale abgelegt hat. Als Cäcilia 16 Jahre alt wird, beginnt sie nach ihrer Mutter zu forschen. Eine Schwester zeigt ihr die Erkennungszeichen, die die Mutter hinterließ. Doch daraus lässt sich kein Schluss ziehen.

Im Kloster legt man größten Wert auf Musik. Alle Kinder werden musikalisch gefördert. Cäcilia ist besonders begabt. Ihr Geigenspiel erregt auch bei dem neuen Musikmeister und Komponisten (Antonio Vivaldi) Interesse. Er möchte sie zu seinem Star machen, was aber hieße, dass Cäcilie auf ein Leben außerhalb der Klostermauern verzichten müsste. Sie lehnt das Angebot ab, zieht sich Männerkleider an, besteigt ein Schiff Richtung Griechenland, wo sie hofft, ihre Mutter zu finden.

Tiziano Scarpa wählt ein gehobene, sehr feministische Sprache, in der er Cäcilia die Briefe verfassen lässt. Des öfteren allrdings beschwert das Pathos das Lesen. Interessant wäre für den Leser zu erfahren, ob die in dem Roman geschilderten Lebensumstände der Mädchen historisch belegt sind. Etwa, dass die Mädchen nur selten das Kloster verlassen dürfen. Wenn, dann nur unter strengster Bewachung und von oben bis unten verhüllt. Nur ein Augenschlitz ermöglicht ihnen eine schmale Sicht auf die Welt. Weitere strenge Lebensregeln werden geschildert. War das Leben tatsächlich so engmaschig nur auf Musik ausgerichtet? „Wir sind lebendig gleichsam in einem Sarg aus Musik begraben“ (73) schreibt Cäcilia an die unbekannte Mutter. Zu öffentlichen Messen spielen sie alle mit Maske – ihre Körperlichkeit soll verleugnet werden, um die Zuhörer – meist Männer – nicht vom Hören ablenken. Aufbegehren gilt nicht. Sie sollten lieber dankbar sein, leben zu dürfen. Früher wären die unehelichen Kinder gleich nach der Geburt ertränkt worden wie junge Katzen, erklärt eine Schwester dem geschockten Mädchen.

Der Roman lebt von den poetischen, manchmal stark überhöhten Bildern und fordert dem Leser einiges an Geduld ab. Über Venedig selbst erfährt man wenig.

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George Saunders, Bei Regen in einem Teich schwimmen. Luchterhand Verlag

Untertitel: Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen.

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert

Für Bücherwürmer, Büchernarren, Bücherabhängige, Neugierige, Gierige – also für alle, die gerne lesen, ist dieses Buch ein MUSS!

Immer wieder frage ich mich, warum ich ein Buch von der ersten Seite an mag. Welche Tricks stecken dahinter? Wie stellt es der Schriftsteller an, den Leser bei den Seiten zu behalten? George Saunders lehrt Literatur und Schreiben an der Syrakuse University / New York. Dass er weiß, wie ein Autor seine Leser bei der Stange hält, merkt man sofort. Als „Einführung“ in die Geheimnisse, die einen guten Schriftsteller ausmachen, legt er als Kostprobe die Erzählung „Auf dem Wagen“ (1897) von Anton Tschechow vor. Dann stellte Saunders die richtigen Fragen, die in das Innere der Schreibgeheimnisse Tschechows führen. Das geschieht nicht lehrerhaft, sondern ganz nah am Leser und mit viel Humor. Sechs weitere Erzählungen folgen, die allesamt von den großen russischen Erzählern, wie Tschechow, Turgenjew, Tolstoj und Gogol stammen. Es empfiehlt sich, nicht alle Erzählungen und deren „Lösungen“ auf einmal zu lesen. Am besten man liest eine mehrmals, lässt die Fragen und Deutungen auf sich wirken, lässt sie „rasten und reifen“. Eine Weile später entscheidet man sich für die nächste. Eine gute Torte verschlingt man ja auch nicht auf einmal!

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Carsten Henn, Der Buchspazierer. Pendo Verlag/Piper Verlag

Carsten Henn widmet diesen Roman allen „Buchhändlern und Buchhändlerinnen. Selbst in der Krise versorgen sie uns mit einem ganz besonderen Lebensmittel“.

„Ein Roman ist wie der Bogen einer Geige und ein Resonanzkörper wie die Seele eines Lesers“ – diesem Motto von Stendhal, dem Roman vorangestellt, kann der Leser vertrauen – es löst sich wie ein gegebenes Versprechen Seite für Seite ein.

Bücher über Bücher zu schreiben ist ein Trend. Elke Heidenreich, George Saunders oder Ruth Ozeki – um nur einige zu nennen, haben sich diesem Thema in verschiedenster Weise genähert. Für Carsten Henn ist ein Buch tatsächlich Leben und Lebensmittel. Es gibt dem Leser Ruhe, vor allem dem einsamen Leser. Einsamkeit ist Henns Hauptthema. Schon im „Die Geschichten des Bäckers“ geht es darum, Menschen zu zeigen, die ohne Liebe vereinsamen. Der Bäcker weiß darum und hilft mit seinen Geschichten.

Auch Carl, der Buchspazierer, weiß um die Einsamkeit der Menschen. Jeden Abend packt er Bücher liebevoll ein und marschiert mit ihnen zu seinen Kunden, reicht ihnen ein stückweit Trost, Hilfe. Carl könnte längst schon in Pension gehen. Aber er hängt an seinem Beruf als Buchhändler. Seit die Tochter des Ladenbesitzers das Geschäft übernommen hat, droht ihm die Entlassung. Aber unbeirrt davon marschiert er mit seinen Büchern von Kunde zu Kunde. Bis eines Tages sich ein zehnjähriges Mädchen ihn ungebeten begleitet. Sascha ist ein wenig altklug, gewitzt und versteht sehr schnell, dass auch Carl unter Einsamkeit leidet. Sie lehrt ihn, das Leben anzupacken.

Vielleicht tut so mancher Leser das Buch als „Jugendlektüre“ ab. Als gute zwar, aber lässt sich deshalb nicht so richtig auf den Inhalt ein. Mancher mag vielleicht „Kitschalarm“ orten. Aber solche Leser wollen die Botschaft der tiefen Menschlichkeit nicht wahrhaben. „Weißt du, die Menschen vergessen immer mehr zu lesen. Dabei sind Menschen zwischen den Deckeln, ihre Geschichten. In jedem Buch ist ein Herz, das zu pochen beginnt, wenn man es liest, weil das eigene Herz sich mit ihm verbindet“, erklärt Carl dem Mädchen (S46). Ja, es menschelt in den Büchern von Carsten Henn. Manchmal vielleicht sehr sogar. Und unsere Zeit ist dafür nicht immer gemacht, solche Bücher zu lesen, ihre Botschaft zu akzeptieren. Aber gerade deshalb sind Henns Bücher wichtig.

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Ileana Cotrubas und Manfred Ramin: Die manipulierte Oper. Verlag Der Apfel

Ein Buch, das jeder Kulturinteressierte gelesen haben muss. Welch Erleichterung, dass endlich Autoren, die es wissen, weil sie die Misere am eigenen Leib erfahren mussten, offen über die Krankheit „Regietheater“ schreiben und hinter die Kulissen blicken. Was übrigens für die Oper gilt, gilt für jedes Theater. Wie ich schon andernorts schrieb, gibt es gutes Theater und Regietheater. Letzteres ist zunehmend unerträglich geworden

Ileana Cotrubas war seit den 1970er Jahren auf allen Opernbühnen der Welt zu Hause, sang Susanna, Manon, Violetta und viele andere Partien. Manfred Ramin war Dirigent und managte die Karriere seiner Frau. Beide sind also mit dem Opernbetrieb bestens vertraut. Und sie haben den Mut, über den Missbrauch zu schreiben. Regisseure – und sie nennen bekannte Namen wie Neuenfels, Kusej oder Calixto Bieito – missbrauchen das Werk, um durch skandalöse Inszenierungen zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen zu werden. Je skandalöser eine Inszenierung ist, desto mehr steigt der Ruhm des Regisseurs. Die Liste der „Parasitenregisseure“, wie die Autoren sie nennen, kann beliebig verlängert werden. Parasitenregisseure deswegen, weil “ es sich dabei um Gebilde handelt, die aus eigener Kraft nicht existieren können. Sie sind auf einen Träger angewiesen, den sie dann oft überwuchern.“ (S 42)

Die Autoren bleiben nicht an der Oberfläche, sie gehen in die Tiefe des Übels. Das beginnt beim Direktor – welche Regisseure bestellt er? Wann weiß der Sänger, die Sängerin (der Schauspieler, die Schauspielerin), welcher Regisseur inszenieren wird? – Meist viel zu spät, um aus der Produktion noch aussteigen zu können. Warum bestellen Politiker – und hier seien einmal mehr für Österreich Andrea Mayer und Veronika Kaup-Hasler genannt – immer wieder unfähige Direktoren? Interessiert sich die Politik überhaupt für Kultur? Eher sehen die Zuständigen sie als notwendiges Lockmittel für Touristen.

Hoffnung blinkt da und dort auf – erstens durch dieses ungemein wichtige Buch, das man jedem Kulturverantwortlichen auf den Schreibtisch legen und ihn zur Lektüre verpflichten müsste. Dann durch Künstler, wie Nikolaus Habjan oder den Dirigenten Philipp Jordan, die sich offen gegen das Regietheater stellen. Und durch den Kurierjournalisten Thomas Trenkler, der immer wieder in seinen Artikeln auf die fragwürdigen Bestellungen von leitenden Posten in der Kultur hinweist.

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Carsten Henn, Der Geschichten Bäcker. Piper Verlag

Dieses Buch ist eines der wenigen, das einen festen Platz in meinem Regal bekommt. Und oft herausgenommen wird, wenn ich einzelne Seiten lesen will. Oder wenn ich es einem ganz lieben Freund, einer Freundin borgen will. Aber nur denen, die keine Berührungsängste vor Emotionen haben. Ich sage: Endlich ein Buch, das nicht kopflastig, keine detailverliebte Nabelschau ist, das keine Moralpredigten, keine Lebensanleitungen, keine philosophisch-intellektuellen Abhandlungen als Roman verkaufen will – es ist schlicht und einfach ein Buch, das ich von der ersten Seite an liebte. Ich war traurig, als ich es zu Ende gelesen hatte. Eben, weil es zu Ende war. Wenn die Figuren des Buches sich ein wenig zurückziehen und das banale Alltagsleben mich wieder in den Klauen hat. Aber ich sage mir: es gibt die Figuren ja weiter, sie existieren, ich brauche sie nur abzurufen.

Wer sind diese Figuren? Die Tänzerin Sofie: Ihre Karriere als gefeierte Primaballerina wurde durch eine Verletzung abrupt beendet. Sie lebt im luftleeren Raum ohne Plan, ohne Aufgaben. Eine Situation, die vielen schon passiert ist. Wie soll es weitergehen? Ihr Mann ist Choreograph am Theater, wo sie bisher getanzt hat. Er versteht Sofies Rat- und Ruhelosigkeit, Versucht ihr auf seine Weise zu helfen. Aber wie das so ist mit den gutgemeinten Ratschlägen – sie werden zu Schlägen. Da tritt wie ein deus ex machina die Figur des Bäckers Giacomo in ihr Blick- und Lebensfeld. Er behandelt Leben, Menschen und alles Lebendige mit Liebe, Sorgfalt. Besonders auch seinen Teig, Deshalb ist sein Brot das beste weit und breit. Und er bringt Sofie das Brotbacken und die Liebe zum Leben bei. Wie das gehen kann, ist der Inhalt dieses Buches. ZAUBERHAFT!

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Edith Schreiber-Wicke: Im Schatten deiner Flügel.Amalthea Verlag

Schreiber-Wicke ist bekannt als Kinder- und Jugendbuchautorin. In ihrem ersten Buch für Erwachsene beweist sie trockenen Humor, Beobachtungsgabe und Sprachwitz, gepaart mit genauen Recherchen. Als Thema wählte sie die Judenverfolgung in Venedig ab September 1943. Ein unangenehmens Thema, das, so die Autorin im Buch, von vielen bis heute in die Kiste der Vergessens gesteckt wird. Die an der Wiener Oper als Star gefeierte Sängerin Lilly Salomon versteckt sich in Venedig, weil sie – und viele andere auch – meint, dass Mussolini Juden nicht verfolgt. Ein lebensbedrohlicher Irrtum! Im September 1943 werden alle Juden Italiens aufgegriffen und in Lager verschickt. So auch Lilly Salomon. Damit endet der erste Teil der Geschichte, die spannend und interessant geschrieben ist. Immer wieder verbindet die Autorin das Schicksal Salomons mit der Geschichte Toscas, die von Scarpia bedrängt wird. Auch Lilly läuft ihrem Scarpia in die Arme, dem machtbesessenen Conte Montanara. Wenn er sie nicht besitzen kann, will er sie zerstören….Sie wird von der italienischen Polizei abgeführt.

Dann springt Schreiber-Wicke 75 Jahre weiter, ein Toter wird aus der Lagune gefischt. Die polzeilichen Ermittlungen laufen an. Es gibt einen Commissario, eine elegante Assistentin, einen golfspielenden Chef, der sich nicht sehr um die Ermittlungen kümmert, und vieles mehr, das wohl ganz bewusst an Donna Leons Krimi erinnert. Die Parallelen sind gewollt, und es macht Spaß, die zahlreichen déjà -us zu entdecken. Weniger die umständlichen, mit allzu großer Detailverliebtheit geschmückten, wenn auch sprachlich witzigen Beschreibungen und Wiederholungen. Dem Labyrinth der Nachforschngen des Commissario und seinem Team folgt der Leser zwar mit Interesse, aber die Schlingen, Verirrungen, Abschweifungen ermüden ein wenig. Von Lilly Salomon ist kaum mehr die Rede, erst am Schluss gibt es eine Andeutung, dass sie vielleicht überlebt hätte. Ihr (erfundenes) Leben weiter zu erzählen wäre spannender gewesen als die umständlichen Ermittlungen des Commissario. Was man aber wirklich genießt, sind die ironisch-kritischen Blicke, die die Autorin auf Venedig, die Venezianer und die Touristenmassen wirft. Sie kennt diese Stadt wie ihre sprichwörtliche Westentasche!!

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„Wenn sie nicht reitet, schreibt sie Romane“, schreibt der Verlag auf der Rückseite des Covers über Karen Duve. Zum Beispiel einen über Kaiserin Elisabeth. Nein, eher über „Sisi“, gemeint ist die Kaiserin ganz privat. Um allen von vornherein klar zu machen, worum es in diesem Buch geht, zieren die beiden Zirkuspferde der Kaisern, Flick und Flock, das Titelbild. Die beiden wurden von Elisabeth persönlich dressiert – sie sollten aufsteigen und das andere Pferd gleichsam umarmen lernen. Sind ja Zirkuspferde, dachte wohl Elisabeth, die müssen all diese (unnötigen) Dressuren über sich ergehen lassen. Wie wenig Sisi die Pferde liebte, zeigt Duve in den Passagen, wo sie ohne Rücksicht auf Verluste die Pferde bei Fuchsjagden oftmals fast zu Tode hetzt. Sie hätschelt zwar die Pferde, striegelt sie auch manchmal selbst, aber im Grunde ersetzen ihr die Tiere einen Therapeuten und Eheberater. Reiten ist für Elisabeth Obsession, Herausforderung, an die äußersten Grenzen zu gehen, den Kaiserhof und alle Probleme im rasenden Galopp hinter sich zu lassen. Reiten gibt ihr die absolute Freiheit, die Loslösung von allen Bindungen.

Duve beginnt ihre romanhafte Darstellung der viel bewunderten Kaiserin mit der Beschreibung einer dieser grausamen Hetzjagden auf Füchse, wie sie in England damals beliebt waren. Je gefährlicher, je rasanter und wilder so eine Jagd ist, desto wohler fühlt sich Sisi. England galt damals (circa 1870) als das Mekka für Fuchsjagdreiter. Leider sind die Passagen der Jagdschilderungen im ganzen Werk allzu hervorherrschend, bestimmend, da verliert eine Nichtreiterin – so wie ich – schnell das Interesse an den überpräzisen Beschreibungen, angefangen von Kleidung bis zur Jagd- und Gesellschaftsordnung. Denn es ist klar, da darf nicht Hinz und Kunz mitreiten. Man kann ja über diese ausführlichen Passagen hinweglesen, denn Karen Duve liefert daneben noch genügend interessanten Stoff: Da lesen wir keinen Funken von Verehrung für die Kaiserin. Duve lässt sie als kaltherzig und nur auf ihren Vorteil bedacht erscheinen, als eine Frau, die dank ihrer Position über das Leben anderer bestimmt. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, entreißt sie ihre Nichte Marie Louise ihren Eltern und Freundeskreis, um sie zu einem ihr hörigen Geschöpf zu erziehen. Über die Hofdamen Marie Festetics und Ida Ferenczy bestimmt sie, als wären sie ihr Eigentum. Mit welcher Hartherzigkeit und Gleichgültigkeit sie ihrem Sohn Rudolf und ihrem Ehemann gegenüber agiert, lässt beim Leser manchmal Zweifel aufkommen, ob er es mit einer Biografie zu tun hat oder nicht doch eher einem Roman. Doch die Autorin beruft sich im Nachwort auf verlässliche Quellen. Sie scheint, wie so viele Menschen damals wie heute, zwischen Bewunderung – was die Reitkünste betrifft auf jeden Fall – und ironischer Ablehnung gegenüber der Kaiserin zu schwanken. Auf jeden Fall bereitet die Lektüre dem voyeuristischen Leser – und das sind wir im Grunde ja alle – großes Vergnügen.

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Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß. Wagenbach

Chapeau der Übersetzerin Barbara Kleiner, die diesen geborstenen Staudammwortschwall an Bösartigkeiten ins Deutsche übersetzte.

Und Chapeau natürlich der Autorin, die immer neue, noch grauslichere Bilder für die Wut, den Frust der Hauptakteurin erfand.

Und natürlich Chapeau allen Lesern, die diesen Schwall an Hass lesen. Man glaubt bei der Lektüre, all dieser unaufgestaute Hass, den Gaia den Mitmenschen ins Gesicht und dem Leser in die Seele spuckt, schleudert, bleibt an der Haut kleben, lässt sich nicht mehr abkratzen. Es ist zu empfehlen, dieses Buch nicht vor dem Einschlafen zu lesen. Albträume sind erwartbar.

Gaia wächst in engsten Verhältnissen in einem kleinen Ort am Braccianosee auf. Mutter Antonia hält mit Putzen die Familie beisammen, so gut es geht. Gaia rebelliert gegen die Mutter, ihren Perfektionismus. Zugleich aber möchte sie ihr beweisen, dass sie das Leben besser im Griff haben wird: durch Bildung. Sie strebert, strebert sich aus der Verachtung der Mitschüler in eine gewisse Achtung hinauf. Doch wirklich ist niemand an ihrer Seite. Auch nicht Iris, die alles für diese seltsame Außenseiterin tut. Wenn Gaia von irgendjemandem enttäuscht wird, dann rächt sie sich – einmal durch Brandschatzung, ein andermal durch versuchten Mord, Als Leserin konnte ich dieser Figur nur eingeschränktes Verständnis entgegenbringen, gerade so viel, wie man für ein schizophrene Person hat. Und irgendwie will die Autorin auch klarmachen, dass wir es mit einer Kranken zu tun haben. Die Wellen der Wut kommen abrupt, sie bleiben lange und vernichten viel. Für dieses Buch braucht man einen langen Atem, viel Geduld, um all diese Hasstiraden auszuhalten. Bewundernswert ist das reiche Repertoire an Bildern für die Hasszustände. Allerdings – so überbordend – ermüden sie die Geduld des Lesers. Weniger wäre mehr!

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Leila Slimani: Schaut, wie wir tanzen

Aus dem Französischem von Amelie Thoma. Luchterhand Verlag

Im ersten Teil ihrer Romantrilogie „Das Land der anderen“ erzählt die Autorin die Geschichte ihrer Großeltern in Romanform: Mathilde aus dem Elsass verliebt sich am Ende des 2. Weltkrieges in den marokkanischen Soldaten Amine. Die beiden heiraten und ziehen nach Marokko. In diesem Band ihrer Familiengeschichte fokussiert Slimani das Geschehen auf die beiden Protagonisten – die Frage nach der Akzeptanz des anderen, lässt die Traditionen und Gewohnheiten des jeweils anderen aufeinanderprallen und doch auch irgendwie verschmelzen..

In „Schaut, wie wir tanzen“ bleibt sich Slimani ihrem Stil der nüchternen Berichterstattung noch mehr treu als im ersten Teil. Sie streut oder verstreut das Geschehen auf mehrere Personen, jede davon ist ein Puzzle in der Entwicklung, die Marokko nach der Unabhängigkeit 1956 nimmt. Slimani steigt mit der Machtübernahme des König Hussein II. in das Geschehen ein. Sie aktiviert die bekannten Figuren Mathilde und Amine als Vertreter der reichen Grundbesitzer, die von der aktuellen Entwicklung Marokkos ab 1956 keine Ahnung haben (wollen). Amine wird immer reicher, aber er und auch Mathilde haben die Ausrichtung ihres Lebens aus den Augen verloren: Ihr Sohn Selim ist in der Hippieszene verkommen und landet irgendwo in Amerika. Die Tochter Aisha ist nach ihrem Medizinstudium in Straßburg in die Heimat zurückgekehrt. Sie heiratet den mächtigen Staatsbeamten Mehdi, einst ein vielversprechender Schriftsteller und Kämpfer für Freiheit. Beide führen in Rabat ein Leben nach westlichen Vorbildern: Sie arbeiten, geben Einladungen, gehen auf Partys und haben ein Sommerhaus am Meer.

Über allem steht als grausamer Wächter König Hussein II, Er hat alle demokratischen Bestrebungen ausgetilgt, überlebt zwei Attentate und lässt sich wie ein Gott verehren.

Unter all diesen Reichen, Pseudomächtigen und Möchtegernmitläufern leben die Hausmädchen, die Taglöhner und die Heerschar von Bettlern. Hussein will keine Intellektuellen, die schreiben nur unnötige Bücher und schüren den Aufstand. Sie werden öffentlich hingerichtet. Die Hinrichtungen werden im Fernsehen zur Hauptsendezeit übertragen. Das Volk soll Angst haben. Diese angstbesessene Zeit und diese verlorene Generation der 60er Jahre seziert Slimani in kurzen, harten Sätzen. Verschmuste Weichzeichnung war ja bekanntlich noch nie ihr Anliegen.

Es empfiehlt sich, beide Bände kurz nacheinander zu lesen. So bleibt man mit den Figuren auf verrautem Fuß.

Luchterhand. Der Literaturverlag. (penguinrandomhouse.de)

Das Buch ist kein Pageturner im üblichen Sinn. Ganz einfach, weil jeder Satz, jeder Absatz zu kostbar ist, um rasch verschlungen zu werden. Alex Capus ist ein Meister der feinen Klinge, baut Leseminiaturen, die aneinandergereiht eine Perlenkette von preziosen Gliedern ergeben.

Es ist kein Roman, auch keine Romanbiografie. Ich würde es am ehesten eine poetische Biografie nennen. Capus erzählt die Geschichte von Susanna Faesch, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Basel geboren wurde. In der (damaligen) Kleinstadt herrscht bigotter Trübsinn, Lebensfreuden sind verpönt. Ihr Vater – ehemaliger Legionär, ihre Mutter eine geistig immer Abwesende. (Köstlich die Szene, in der die Mutter mit Mozartmusik die Moralpauken ihres Mannes ausblendet). Ein wenig Abwechslung bringt Karl Valentiny, ein ehemaliger Kriegskamerad des Vaters. Susanna ist ein eher unauffälliges Kind. Ihre Willenskraft jedoch erstaunlich groß. Als die Mutter eines Tages beschließt, dem nach New York abgereisten Karl Valentiny gemeinsam mit Susanne nachzureisen, nimmt das Kind das gleichmütig auf. Nach dem Vater und den 2 Brüdern sehnt sie sich sowieso nicht. Nun schildert Capus mit eindringlicher Präzision, ohne je dem Recherchewahn zu verfallen, die Entwicklung dieses erstaunlichen Mädchens, das mitten in der größten Industrierevolution (Elektrizität, Eisenbahn,, Dampfschiff) aufwächst Sie wird Porträtmalerin, heiratet und bekommt einen Sohn. Doch eines Tages wird ihr das bürgerliche Leben zu eintönig, sie packt ihren inzwischen 13-jährigen Sohn und bricht in den „Wilden Westen“ auf, um Buffalo Bill kennenzulernen und ihm das Bild, das sie von ihm gemalt hat, zu übergeben.

Der Reiz dieser Biografie liegt einerseits in der unaufgeregten Nüchternheit, mit der Capus den eigenwilligen Weg Susannas aufzeichnet, und andrerseits in der bis ins Detail feingesponnenen Sprache, die den Leser überall hin mitnimmt. Es ist ein Werk, das man nur ungern weglegt. Am Ende angekommen, hat man Lust, sofort wieder neu zu beginnen.

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Sara Mesa: Eine Liebe. Wagenbachverlag

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

Eine Liebe soll das sein? – Eher eine Obsession, die in Selbstauflösung endet. Sara Mesa schildert in einer kristallklaren Sprache gnadenlos die Zerstörung einer Persönlichkeit. Die Ursachen sind nicht ganz einfach auszuloten. Nat, so die Hauptfigur, hat sich irgendwie freiwillig in ein Dorf irgendwo in Spanien katapultiert. Dort ist das pure Nichts: ein paar Häuser und sehr neugierige, subtil zudringliche Nachbarn. Auch die nächste Kleinstadt ist trostlos.

ZU Beginn des Romans denkt man an Juli Zehs Romane über die Stadtflüchter („Über Menschen“ und „Unterleuten“): Oje, schon wieder ein Roman über die Enttäuschungen, die Städter in trostlosen Dörfern erleben. Doch dann gewinnt Nats Geschichte an Fahrt: Die Menschen rund um sie werden ihr unheimlich, sie kann nicht „warm werden“, will nicht an ihren Gartengrillpartys teilnehmen. Die Männer, so ihr Eindruck, betrachten sie lüstern, der Vermieter ist ein echter Ungustl. Das Haus eine Katastrophe. Doch sie bleibt – trotz aller Unannehmlichkeiten. Als sich „der Deutsche“ – so wird er von den Bewohnern genannt – ihr einen seltsamen Vorschlag macht, ist sie schockiert: Er reapariert das Dach ihres Hauses, dafür möge sie ihn „einmal kurz reinlassen“, wie er den Sexualakt umschreibt. Sie geht auf den Vorschlag zunächst aus kühlem Kalkül ein. Aus dem Kalkül wird Gier nach Sex. Sie kann von ihm nicht mehr lassen, auch nicht, als er diese seltsame Beziehung beendet. Und die Dorfbewohner wissen natürlich davon und schneiden sie. Als ihr Hund dann noch das Nachbarmädchen ins Gesicht beißt, wird sie von allen gemieden, ja sogar indirekt bedroht. Noch immer fragt man sich, warum sie bleibt: Der Selbstzerstörungstrieb hat sie in diesen Unort getrieben. Der Leser bekommt immer mehr den Eindruck, alles was um sie und mit ihr passiert, treibt sie in ein Nichts, das sie gewünscht und gesucht hat. Das offene Ende ist grandios, passend zu dieser grandiosen Analyse einer Frau, die sich selbst aufgibt.

Mit feiner Beobachtungsgabe schildert Mesa die Reaktion der Dorfbewohner. Wie mit einem Skalpell legt sie die Intrigen, die Mißgunst und den Neid bloß. Nat soll sich entweder fügen, einfügen oder verschwinden. Sie verschwindet auf ihre Weise.

Packend, nachdenklich machend. Ein Buch, das provoziert! Gut so!

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Mario Giordano, Terra di Sicilia. Goldmann Verlag

Untertitel: Die Rückkehr des Patriarchen

Nein, es ist kein Mafiaroman, wie der Untertitel vermuten lässt. Der Patriarch ist Barnaba Carbonaro, ein armer Schlucker, geboren 1890 in Taormina, lange bevor die Stadt zum Nobeltreff von Künstlern, Schwulen und Reichen wurde. Barnaba wächst in ärmlichsten Verhältnissen auf, der Vater verschiwndet, die Mutter verdient ein paar Lira als Heilerin. Der Bub hat es bald heraußen, dass man beim Baron von Gloeden ein bisserl was verdienen kann, wenn man sich nackt fotografieren lässt. Das tut nicht weh, und er lernt dabei einiges. (Von Gloeden wird später mit seinen Nacktfotos berühmt werden und die Schwulenszene in Taormina befördern.) Doch das Geld reicht nie, er schuftet in den Olivenhainen. Als er größer wird und sich verliebt, träumt er davon, für seine Angebetete ein Hotel zu eröffnen. Daraus wird nie etwas. Die Angebetete entschwindet mit seinem „Freund“, dem adeligen Ruggero.

Was Barnaba exzellent kann, ist blitzschnell rechnen. Bevor andere den Bleistift zücken, hat er schon alles ausgerechnet. Obwohl er nicht lesen und schreiben kann, gelingt es ihm schon in jungen Jahren, in das Orangengeschäft ganz groß einzusteigen und in Deutschland die Nummer 1 auf dem Großgrünmarkt zu werden. Dazwichen heiratet er, zeugt vierundzwanzig Kinder, tötet einen Mann. Und am Ende verliert er alles, alles, nur nicht seinen Mut und Stolz. Bis zu seinem Tode wird er optimistisch und weltoffen bleiben.

Mario Giordano erzählt auf 500 Seiten seine spannende Familiengeschichte, wobei er betont, dass er einiges dazu erfunden hat. Denn schließlich ist es ein Roman und keine „Familiensaga“. Mit einer Sprache, die zwischen Witz, leisem Humor und feiner Poesie oszilliert, entführt uns der Autor in ein Sizilien, das aus vielen Armen, die schufteten, ein paar Großverdienern, wie die Familie Florio (deren Imperium existiert heute nur mehr rudimentär) und einem trägen Adel, der sich beim Untergehen zuschaut und nichts dagegen unternimmt, bestand. Wer Sizilien nur ein bisschen kennt, dem fällt auf, dass sich nicht allzu viel geändert hat. Viel von der sizilianischen Tradition ließ der Autor hineinfließen, etwa die genaue Beschreibung der Arbeit in den Orangenhainen, alte Lieder und Sprichwörter und auch den bis heute noch vorandenen Glauben, dass die Toten mit den Lebenden noch eine Weile zusammen bleiben. Aber Giordano ist kein Opfer seiner Recherchen, wie so viele Autoren, die dem Leser ihre Recherchearbeit ganz ungefiltert aufbrummen. Giordano versteht es, all sein Wissen über Sizilien, das Orangengeschäft und die Bedeutung der Familie so spannend zu verarbeiten, dass man traurig ist, wenn der Roman zu Ende ist. Im Nachspann verspricht der Verlag eine Fortsetzung!!

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Stefan Hertmans: Der Aufgang. Diogenes

Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm

Der Verlag nennt das Werk einen Roman. Er ist aber eher eine historische Dokumentation in Erzählform. Der Autor hat die Fäden in der Hand, er zählt über die Spuren, denen er nachgeht. Leser, wie ich, mit der Geschichte der Niederlande nur in großen Zügen vertraut ist, der wird sich bald in den Irrgängen der Recherchen ein wenig überfordert fühlen.

Stefan Hertmans hat in der belgischen Stadt Gent ein altes Haus gekauft, zieht nach Jahren wieder aus und erfährt, dass einst ein gewisser Willem Verhulst mit seiner Familie dort gewohnt hat. Seine Recherchen ergeben, dass dieser Verhulst ein ganz übler Nazikollaborateur war. Er ließ durch seine Spione Listen von Bürgern erstellen, die gegen die deutschen Besatzer waren. Durch diese Zusammenarbeit mit den Deutschen gewann er großen Einfluss in der Stadt und sah ungerührt zu, wenn die von ihm genannten Menschen verhaftet, deportiert oder hinggerichtet wurden. Das wirklich Interessante an dieser Geschichte sind aber seine Frau und seine Kinder. Seine Frau Meintje ist sehr gläubig und aus tiefstem Herzen Pazifistin. Wie kommt sie mit so einem Mann zurecht? Es ist ihr Glaube, der ihr hilft, das alles zu überstehen. Obwohl sie einiges ahnt, was Willem so treibt und sie Hitler und die Nazis aus tiefstem Herzen verachtet, hält sie zu ihm und besucht ihn sogar nach Kriegsende im Gefängnis, wo er für seine Taten sitzt. Sie hält alles aus, bleibt in ihrer Haltung unerschütterlich und gibt das ihren Kindern weiter. Die müssen damit leben lernen, dass ihr Vater ein Nazicollaborateur war. Stefan Hertmans weiß diese Frau sehr sensibel zu beschreiben und macht es auch glaubwürdig, dass sie bis zum Tod des Mannes zu ihm steht. Diese Seite des „Romanes“ ist am berührendsten, weil es vom Klischeebild einer von Nationalsozialismus geprägten Familie durchaus abweicht.

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Nell Leyshon, Ich, Ellyn. Eisele Verlag

Aus dem Englischen von Wibke Kuhn

„Ich lieg auf heu was süß riecht und nach totsommer und ich horche und weinen kommt wieder..“ So beginnt der Roman, – unverkennbar Nell Leyshon. Man erinnert sich sofort an“Die Farbe von Milch“ – in beiden Werken beschreibt Leyshon den Weg eines jungen Mädchens aus der Enge eines Bauernhofes hinaus in die WElt, in der es Sprache gibt. Leyshon gelingt in beiden Romanen das Unwahrscheinliche: Sie greift auf eine „Unsprache“ zurück, in der sich die Mädchen nicht ausdrücken können, im Unvermögen des Sprechens stumpf bleiben, bis sich alles ändert und sie mit der zunehmenden Ausdrucksfähigkeit nicht nur die Welt sich erweitert, sondern sie auch zu einem Selbstbewußtsein finden, das sie mutig macht.

England 1573, irgendwo in der Einöde. Da wächst Elly heran, weiß nichts von sich, von der Welt rundum, kennt nur das Schuften, die Plage und Hunger. In der Familie wird nur das Nötigste geredet – meist nur Arbeitsbefehle oder kurze Gebete. Eines Tages entdeckt Elly die Musik und den Gesang. Sie ahmt nach, entdeckt, dass sie „singen“ kann. Heimlich verlässt sie den Bauernhof und macht sich auf in die Singschule. Mutig verkleidet sie sich als Bub, um aufgenommen zu werden. Sie lernt lesen, schreiben und vor allem -singen. Die Musik bedeutet ihr alles. In ihr wächst mit dem Selbstbewusstsein auch die Sprache. Für den Leser fast unmerklich lässt die Autorin Elly aus der Hilflosigkeit des Ausdrucks in eine zarte poetische Sprache gleiten. Als Elly am Höhepunkt ihrer Ausbildung ist, gibt sie ihre Identität als Mädchen preis und muss die Schule verlassen. Aber sie ist mutig geworden und hat Stolz und selbstsicher verkündet sie am Ende: “ Ich komme dich holen. Ich, Ellyn, ich komme dich holen, Agnes.“ Sie wird ihre kleine, über alles geliebte Schwester Agnes aus dem Elend des Bauernhofes herausholen.

Ein Roman voller Poesie und starker Aussagekraft, in dem man hineinkippt und irgendwie froh und getröstet wieder in den Alltag zurückkehrt.

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Harald Lesch und Klaus Kamphausen:Über dem Orinoco scheint der Mond. Penguin Verlag

Untertitel: Warum wir die Natur des Menschen neu begreifen müssen, um die Welt von morgen zu gestalten.

Titel und Cover verraten bereits, dass es um eine romantische, an die Seele des Menschen und der Natur anrührende Diskussion um den traurigen Zustand der Welt geht und welcher Ausweg aus dem Dilemma sich bietet. Die Gründe, warum die Welt am Rande des Kippens steht, sind bekannt, werden von den Autoren in bekannter Weise angeführt: Die Gier des Menschen nach mehr und immer mehr, die Schwächen, das Unvermögen der Politik, die Digitalisierung, die uns immer weiter in eine technische Abhängigkeit treibt, und immer weiter weg vom Ursprung – nämlich der Natur in ihrem ureigensten Sinn. Es werden große Naturforscher, wie Humboldt, Mathematiker, wie Gödel, Philosophen wie Kant und Schopenhauer aufgerufen. Sie alle werden zitiert, wenn es um den Begriff Natur und Welt geht. Letztendlich geht es den Autoren darum, klar zu machen, dass wir nur Gast auf dieser Welt sind, sie gehört uns nicht. Und die Verantwortung für das WEiterbestehen trägt jeder einzelne und darf nicht den nächsten Generationen überlassen werden. Im Grunde nichts Neues, nur gut in einen romantischen Rahmen verpackt: Die Gespräche finden am Ufer des Orinoco statt, der Mond geht irgendwie romantisch auf, die Moskitos sind real und lästig.

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Massimo Carlotto: Die Frau am Dienstag. Folio Verlag

Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler

Obwohl es um Mord und allerlei dunkle Machenschaften geht, schreibt Carlotto keinen Kriminalroman, sondern ein „Kriminalmärchen“. Denn alles, was sich abspielt, ist so irreal, dass man es nur für eine Märchenform halten kann. Im Zentrum steht eine Ex-Prostituierte, die für einen Mord angeklagt und verurteilt wird, den sie nicht begangen hat. Sie ist schön und irgendwie märchenhaft unschuldig, was gleich mehrere Beschützer auf den Plan ruft: Einen Anwalt, der ein schlechtes Gewissen hat, dass er ihr nicht helfen konnte und ihr nach der Entlassung Wohnung und ein neues Leben schenkt. Er verlässt seine Familie, die er liebt und zieht zu der Schönen. Die beiden haben keinen Sex miteinander, sie leben wie gute Freunde zusammen. Das ist schon der erste märchenhafte Einschlag. Dann gibt es da noch einen zweiten Beschützer, einen mit Cowboyhut und Stiefeln. Er ist geheimnisvoll, taucht immer wieder in schwierigen Situationen wie ein deus ex machina auf, um die Schöne zu retten. Weiters sind in den Fall, der zuerst einmal keiner ist, ein Transvestit und Besitzer einer Pension, wo bunte Vögel Unterschlupf finden. und ein EX-Pornodarsteller, der immer weint, verwickelt. Das alles zusammen ergibt ein unentwirrbares Knäuel. Letztendes geht es um die Frage, ob eine Person, die einer Tat fälschlicher Weise verdächtigt wird, irgendwann und irgendwo ihre Ruhe vor der Meute der Medien und der Polizei findet. Ein Thema, das durchaus relevant in der heutigen Zeit ist und einen klareren Text und Wachruf verdient hätte.

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Margret Greiner: „Mutig und stark alles erwarten“ Elisabeth Erdmann-Macke – Leben für die Kunst. btb Verlag

Durch ihre sensible Sprache und die intensiven Recherchen gelingt es Margret Greiner immer wieder, in die Tiefen einer Persönlichkeit hinabzutauchen. Es sind die mutigen Frauen, die ein Leben außerhalb jeglicher Norm führten, die Margret Griener in ihren Romanbiografien lebendig werden lässt.

Elisabeth Gerhardt wächst in einer gutbürgerlichen Familie auf, bekommt die beste Erziehung. Sie ist schön, aber völlig uneitel. Sie ist begabt, ohne damit aufzutrumpfen. Später, in ihrer Ehe mit dem Maler August Macke, wird sie seine Beraterin, Muse und Mitgestalterin werden, ohne je auch nur ein Zipfelchen vom Ruhm für sich zu beanspruchen. Deshalb ist es gut, dass Margret Greiner diese Lichtgestalt an das „Licht der (breiten) Öffentlichkeit“ hebt. Wie schon in ihren anderen Romanen nutzt sie ihr übervolles Wissen und stülpt es gleichsam als unsichbaren Mantel um die Figur Elisabeths. Nur manchmal, besonders in den ersten 70 Seiten, werden die Details über das Stadium des Verliebtseins zu häufig und überschwänglich. Ja, man hat schon begriffen, dass August Macke und Elisabeth Gerhardt füreinander bestimmt waren, wie das so allgemein heißt. Aber da wird halt ein bisserl viel gejubelt, gesungen, Gedichte vorgetragen. So manche Leserin (ich zum Beispiel) denkt dabei, dass es genug sei.

Aber dann, als das Leben von Elisabeth – nun schon lange Macke, gut verheiratet und Mutter zweier Söhne – Stärke abverlangt, als ihr geliebter August 1914 an der Front fällt, da besiegt Elisabeth die Trauer und Margret Greiner die liebliche Sprache. Elisabeht sagt sich täglich vor: dass sie für die Familie, die Freunde, die sie brauchen, da sein muss. Und vor allem sorgt sie sich um das Werk ihres Mannes, das geschützt werden muss. Ab diesem Zeitpunkt wird aus der heiter durchs Leben zwitschernden und musizierenden Elisabeth Macke eine zupackende Erdmann-Macke. Denn sie hat beschlossen, ihre Söhne brauchen einen Vater, sie einen Mann im Haus. Kurzum sie heiratet Mackes besten Freund Lothar Erdmann, bekommt von ihm einen Sohn und eine Tochter. Doch Lothar leidet an Depressionen, ist unsicher, fühlt den übergroßen Einfluss, den August Macke auch nach seinem Tod auf die Familie hat. Elisabeth ist diejenige, die das Leben packt. Als ihr über alles geliebter Sohn Walter an einer schweren Krankheit srribt, auch da findet sie wieder zu sich. Sie ist Zentrum, lenkt ihre Familie durch die Wirren des 2. Weltkrieges und überwindet auch den Tod ihres zweiten Mannes und ihres Sohnes Wolfgang. Sie bleibt stark, widmet sich der Rezeption der Bilder ihres Mannes, organisiert Ausstellungen, erlangt spät, aber doch als „Witwe Mackes“ eine Berühmtheit, die sie mit Genugtuung erfüllt, weil endlich nach langen Kämpfen das Werk August Mackes den Stellenwert in der Kunstszene bekommt, der ihm gebührt. Sie starb im März 1978 im neunzigsten Lebensjahr.

Margret Griener liefert nicht nur eine dichte Biografie, sondern entwirft zugleich auch ein weit umfassendes Porträt der Zeit von 1900 bis 1978, also fast eines Jahrhunderts. Sie forschte unermüdlich alle Freunde aus, die mit Elisabeth und August innigen oder auch nur losen Kontakt hatten, verfolgt alle Spuren der Künstler und Literaten, die für das Kunstgeschehen rund um August Macke relevant waren. Die erste Hälfte des Buches ist fast mehr ein Buch über Macke, seine Art,das Leben und die Kunst zu sehen, als über Elisabeth. Insgesamt schuf Margret Greiner weit mehr als eine Biografie, fast schon ein Kompendium an lebensvollen Zeugnissen aus dieser Zeit.,

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Margret Griener liefert nicht nur eine dichte Biografie, sondern entwirft zugleich auch ein weit umfassendes Porträt der Zeit von 1900 bis 1978, also fast eines Jahrhunderts. Sie forschte unermüdlich alle Freunde aus, die mit Elisabeth und August innigen oder auch nur losen Kontakt hatten, verfolgt alle Spuren der Künslter und Literaten. Das Buch ist mehr als eine Biografie, es ist ein Kompendium an lebensvollen Zeugnissen aus dieser Zeit.,

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Aus dem Französischen von Amelie Thoma

Gleich vorweg: Ich schätze Leila Slimani überaus. Ihre beiden Bücher „Das Land der Anderen“ und „..dann schlaf auch du“ sind mehrlmals gelesene Schätze meiner Bibliothek. Aber – leider – mit diesem Buch konnte ich nichts anfangen. Schon das über Seiten gehende Lamento über die Schreibhemmung langweilt! Es gibt ja kaum einen Schriftsteller, der die Schreibblockade nicht schon einmal zum Thema seines nächsten Buches machte. Motto: Wenn dir nichts einfällt, dann schreib darüber, dass dir nichts einfällt. Leider heißen diese alle nicht Goethe oder Thomas Mann, die dieses Thema über das persönliche Dilemma hinausgehend zu einem Weltbuch machten. (Faust 1, Der Tod in Venedig)

Nun zu Slimanis Buch. Ist die Not am größten, dann gibt es immer einen deus/ eine dea ex machina. In diesem Fall die Verlegerin: Sie schickt Slimani nach Venedig, wo sie im Museum „Punta della Dogana“ eine Nachht verbringen und darüber schreiben soll. Gesagt -getan. Zu Venedig selbst fällt Slimani nichts mehr ein – ist ja alles schon hundertfach geschrieben worden, bis zum Kitsch hinauf und hinunter. Die Nacht im Museum ist erwartungsgemäß wenig spektakulär. Es rennen keine Geister durch die Säle, die Bilder beginnen nicht zu sprechen. Einzelne Werke evozieren in der Schriftstellerin Erinnerungen an ihre Kindheit in Rabat. Andere wiederum lässt sie an Bücher von anderen Autoren denken. Dem namedroping mögen vielleicht einige Leser Gefallen finden, wenn es ihnen Freude macht, jeden einzelnen Namen nachzuschlagen. Ich persönlich war mit allen genannten Namen überfragt. Über all das tröstet die intensive Sprache der Autorin hinweg, ihre dichten Bilder aus Rabat. Aber es ist und bleibt ein typisches „Restlessenbuch“ – auf den nächsten großen Wurf werden wir wohl noch warten müssen.

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Viola Ardone, Ein Zug voller Hoffnung. C. Bertelsmann

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Neapel, knapp nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Not ist überall, besonders im Armenviertel, wo der achtjährige Amerigo Speranza mit seiner Mutter in einem „Basso“ wohnt, in einem dieser Einzimmerbehausungen, in die man direkt von der Straße hineinsieht. „Meine Mama geht vor und ich hinterher“, heißt es gleich zu Beginn. Der Satz sagt alles: Die Mutter ist energisch, geht rasch, kümmert sich nicht um den Sohn, der hinter ihr herhetzt. Dennoch – er liebt seine Mutter, versteht unbewusst und manches auch bewusst, warum sie so rau und nach außen hin unzugänglich ist. Auf seine Weise liebt er sie. Die ersten sieben Absätze beginnen alle mit „Meine Mama“.

Amerigo wächst auf der Straße auf, macht Streiche, wie alle anderen Kinder auch. In die Schule geht er nicht mehr, er hat keine Lust auf Prügel. Eines Tages geht das Gerücht, die Kinder werden nach Russland verschickt. Angst überfällt alle. Amerigo jedoch ist mutig, als er in den Zug steigt, der ihn in den reichen Norden zu einer „neuen Familie“ bringt. Er unterdrückt Angst und Heimweh, lebt sich schnell bei der neuen Familie ein, wo er sich geborgen und geliebt fühlt. Sein Herz schlägt für die Musik, und er bekommt eine Geige geschenkt und darf Geigenunterricht nehmen. Doch nach einem Jahr heißt es wieder zurück nach Neapel. Wie die Geschichte weitergeht, sei hier nicht verraten.

Was das Buch so wertvoll macht, ist die schlichte und zugleich poetische Sprache. Die Autorin schreibt aus der Sicht des Kindes, ohne je peinlich in Kitsch oder Verniedlichung zu verfallen. Dazu gibt ihr der lebensschlaue Amerigo, der sich auf alles seinen nicht unklugen Reim macht, keine Gelegenheit. Das Schicksal Amerigos und der anderen Kinder, die in den NOrden verschickt wurden, geht einem ganz nahe. Manche Leser werden sich noch an Erzählungen älterer Menschen erinnern, die in Wien in den Nachkriegsjahren nach Schweden, Holland oder in die Schweiz verschickt wurden und gerne an diese Zeit denken. Die Solidarität war in Zeiten der Not überall gleich groß.

Seite für Seite genießt man dieses Buch, wie eine Tafel Schockolade, die man nicht auf einmal verschlingen will. So kann man sich lange auf die nächsten Seiten freuen, bis alle zu Ende gelesen sind. Dann ist man traurig, weil man Amerigo verlassen muss. Aber vielleicht will man ihm ja nach einiger Zeit wieder begegnen – nichts leichter als das: Man liest das Buch nochmals, diesmal vielleicht noch langsamer und genüsslicher.

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Leila Slimani: All das zu verlieren. Luchterhand

Aus dem Französischem von Amelie Thoma

Adèle führt ein Leben, das typisch ist für di gehobene Mittelklasse: Verheiratet mit Richard, einem gut verdienendem Chirurgen. Ob sie ihren kleinen Sohn und ihren Mann liebt, das weiß sie selbst nicht so genau. Denn das sichere Alltagsleben langweilt sie, ebenso ihr Beruf als Journalistin. Ihr Ausweg aus der Langweile und dem Lebensüberdruss – ist Sex, je billiger, brutaler – desto besser. Nach der zweiten Szene dieser Art beginnt sich allerdings der Leser auch zu langweilen. Man wundert sich nur, wie realistisch und spachlich großartig Slimani all diese Szenen, die eindander ähneln, hinbekommt. Es kommt, wie es kommen muss: Der Ehemann kommt dahinter. Aber zur Überraschung Adeles lässt er sich nicht scheiden, sondern versucht sie zu „heilen“, indem er sie liebevoll „einsperrt“ in einem neuen, schönen Haus, fernab von Paris und den Versuchungen. Das nützt nichts, nach einiger Zeit reißt Adèle aus und bricht zu neuen Sexabenteuern auf, bereit für einen tödlichen Sex.

Nach „Das Land meiner Mutter“ und „Dann schlaf auch du“ – ist dieses Buch für mich eine Enttäuschung, trotz der intensiven Sprache.

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Tanja Langer: Der Maler Munch. Langen Müller

Tanja Langer schreibt keine Biographie , sondern wählt einen Zeitausschnitt, in dem Schaffen und Leben des Malers auf der Kippe von Normalität zur Krankheit standen. Munch ließ sich danach selbst in eine Nervenheilanstalt einweisen.

In einer intensiven, hochpoetischen Sprache und starken Bildern nächert sich Tanja Langer dem Lebensabschnitt Munchs, als er in die selbstzerstörerische Hassliebe zu Tulla Larsen verstrickt war. Sie beherrschte sein Denken, Handeln und Malen. Eifersucht, Hass, Sexualität, Alkoholexzesse und Selbstzerfleischung kennzeichnen diese Beziehung und gehen in die wilde, exzessive Bildsprache des Malers und seiner „Biografin“ ein. In Tulla sah er alle Frauen, die er in seiner Kindheit verloren hatte: die beiden Schwestern, seine früh verstorbene Mutter. Deren Tod versuchte er durch die Beziehung mit dieser Frau, die selbst die Extreme liebte und gerne und lustvoll mit Munch ihre Spielchen trieb, zu verarbeiten. Gelang aber nur in immer größere Abhängigkeit, die Ulla auszunützen wusste.

Tanja Langer findet starke Sprachbilder für die Seelenqualen und Exzesse des Malers. Verstärkt wird das Leseerleben durch die zum Thema passenden Bilder, die dem Band beigefügt sind.

Eine Gelegenheit Literatur und Werk direkt zu verbinden ergibt sich bestens in der laufenden Ausstellung „Edward Munch“ in der Albertina Wien, die noch bis zum 19. Juni 2022 zu sehen ist. http://www.albertina.at

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Oliver Dirr, Walfahrt.

Über den Wal, die Welt und das Staunen. Verlag ullsteinextra

Oliver Dirr verbringt mit seiner Frau Theresa die Urlaube auf „Walfahrten“. Im Laufe der Jahre kommen sie rund um die Welt und sammeln Erfahrungenn und ERkenntnisse in Norwegen, Madeira, Grönland, Kanada etc. Zu Beginn interessieren sie sich besonders und fast ausschließlich für Orcas, später jedoch auch für alle anderen Spezies, wie Buckelwale, Bartwale, Belugas, Finnwale. Bei all den Reisen erfahren die beiden auch viel über andere Tiere – Schildkröten, diverse Vogelarten wie den Sturmtaucher. So ganz nebenbei erzählt Oliver Dirr über den Stand der Wissenschaften. Mit viel Humor führt er uns Lesern vor Augen, wie unwichtig wir Menschlein im großen Weltenplan sind und wie wenig wir noch über die Geheimnisse der Natur wissen.

Gelungene Landschaftsbeschreibungen lockern die Erzählungen über Tiere aller Art auf, gewürzt mit Geschichten über die eigenen Unzulänglichkeiten. Humor hat, wer über sich selbst lacht. Das kann Dirr oft und herzlich.

Wir erfahren ohne Belehrung zum Beispiel viel über die Buckelwale. Wie sie die Menschen mit ihren „Sprüngen“ unterhalten, weswegen sie auch „Akrobat der Meere“ genannt werden. Und wir Landeier lernen ein neues Walvokabular, wie „Blas“ (ausgestoßene Atemluft), „Finne“ (Rückenflosse), „Fluke“ (Schwazflosse).

Seine Erkenntnisse fasst Oliver Dirr so zusammen: Wale sind Wesen wie wir. Sie haben Bewusstsein, Intellekt und Kultur, Seine Lieblingstiere bleiben immer die Orcas, da sie an Intelligenz allen anderen Meerestieren überlegen sind, Über viele Jahre wurden ihr Sozialverhalten, ihre Dialekte (ja, wirklich!) studiert, und man ist erst am Anfang der Forschung. Oliver Dirr warnt jedoch vor der Gefahr der Vermenschlichung. „Wir stellen noch immer die falschen Fragen und gehen von unserer Vorstellung von Kultur und Sprache aus.“

Ein ausführliches Kapitel widmet er dem Walfang, schildert die grausamen Methoden, die den Bestand der Wale bis auf 0,1 Prozent reduziert hat. Unter dem Mäntelchen der wissenschaftlichen Erfrorschung werden noch immer aus Geldgier viele Wale getötet.

Am Ende des Buches wird kein Leser mehr „Walfisch“ sagen. Denn er hat die Lektion über diese geheimnisvollen Säugetiere gründlich gelernt.

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Colum McCann: Apeirogon. Rowohlt Tb

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Das Feuilleton ist großteils begeistert, nennt den Roman „einen Jahrhundertroman“ und „Pageturner“. Ein Pageturner mag er wohl deswegen sein, weil so mancher Leser die „Fitzelkapitelchen“ und die nicht immer verständlichen Einschübe überblättern wird.

Der Plot ist wahr: McCann erzählt die Geschichte eines Palästinensers und eines Israelis. Beide haben ihre Töchter durch Anschläge der jeweils Gegenseite verloren. Um ihrer Trauer Herr zu werden und nicht von Hass verzehrt zu werden, schließen sie sich der Friedensorgansisation „Parents Circle“ an. Mitglieder sind Eltern, die ihre Kinder im Krieg zwischen Israelis und Palästinensern verloren haben. Der Kern der Geschichte ist wahr und alles Drumherum ist Fiktion. Das Drumherum aber ist derartig überhöht, verwirrend und und streckenweise undurchschaubar. Manche Kapitel bestehen nur aus einer Zeile, und man kann nicht immer den Sinn des kryptischen Satzes deuten Die Abbildung der Picassotaube und viele kleine Schwarzweißfotos, auf denen nicht immer klar ist, was abgebildet ist, machen aus dem Roman eine Art „Halbbiographie“ und intellektuelle Schmöckerei. Gerade diese Unklarheiten und Zerrissenheit in kleine Kapitel finden viele Kritiker das Beste an dem Roman. Vielleicht, weil kaum jemand zugeben will, dass er streckenwese vor Rätseln stand. Wer will schon zugeben, dass er sowohl die Zahlenspielerei und andere kryptische Hinweise nicht versteht?

Ein Roman, der das Zeug zum „Pageturner“ hätte, wenn der Autor die Hälfte gestrichen hätte.

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Jenny Erpenbeck, KAIROS. Penguin Verlag

Kairos ist der griechische Gott des günstigen, richtigen Moments. Ihn heißt es schnell beim Schopf packen, sonst ist er weg und man sieht nur mehr seinen kahlen Hinterkopf. Was war nun der richtige Augenblick in dieser Geschichte? Wohl nicht, als die 19jährige Katharina sich in den 55 -jährigen Hans verliebt. Denn diese Liebe wird sie fast an den physischen und psychischen Abgrund führen.

Hans W. ist verheiratet, ein Pseudointellektueller,kommt aus dem Westen und lebt aus Überzeugung in der DDR, wird dann als Stasispion angheuert, später selbst bespitzelt. Diese Geschichte erfährt der Leser allerdings erst ganz am Ende und eher nur als Streiflicht. Er will herrschen – über Katharina, sie beherrschen – körperlich in widerlicher Weise, und geistig. Beides gelingt ihm erschreckend – quälend. Da fragt sich der Leser, wozu diese langen, sich immer wiederholenden Quälaktionen über sich ergehen lassen. Cui bono? Und Katharina lässt all die Torturen mit sich geschehen.

Im Gleichschritt mit dem Niedergang dieser Liebe geht der Niedergang der DDR vor sich, den die Autorin zwischen 1987 und 1994 erzählt. Der wirklich erschütternde Teil, und der es wert ist mit viel Aufmerksamkeit gelesen zu werden, sind die letzten 50 Seiten. Sine ira et studio schlildert Jenny Erpenbeck die Konsequenzen der Auflösung der DDR für die arbeitende Bevölkerung, die von einem Tag auf den anderen aus den Institutionen, Fabriken und Unternehmen gejagt wird. Sie zählt die Baulöcher auf, die durch Abriss verschiedener Häuser, Cafés, Theaterbauten entstanden sind und die ein Symbol für den inneren Zustand der Menschen sind. Die DDR war nach dem Zusammenbruch und noch lange danach ohne Hoffnungen auf ein besseres Leben, als das alte war. Tröstlich für den Leser: Katharina hat später geheiratet – nicht Hans. Als dieser stirbt, schickt dessen Sohn zwei Kisten mit allen Erinnerungern an diese „Liebe“. Katharina zögert lange, bevor sie diese Büchsen der Pandora öffnet.

Was den Fluss der Erzählung hemmt, sind die vielen sich wiederholenden Einschübe über Literatur und Musik, die nicht mehr als Zitate sind, namedropping. Nicht alle Namen sagen dem Leser etwas, er müsste ziemlich viel nachschlagen. Jenny Erpenbeck, die als eifrige und penible Recherchiererin bekannt ist, ist hier eindeutig ein Opfer ihres eigenen Fleißes geworden. Die Kunst des Schriftstellers besteht auch darin, sich von Teilen der Recherchen zu trennen, nicht alle in den Roman hineinzustopfen.

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Krisha Kops: Das ewige Rauschen. Arche Literaturverlag

Krisha Kops ist in einer deutsch-indischen Familie geboren, studierte in London Philosophie und Journalismus, promovierte in Heidelberg. Heute hält er Vorträge und Workshops – seine Themen: Indische Philososphie und interkulturelle Fragen.

Das Besondere an diesem Buch -Krops Debütroman – ist die wunderbare Sprache. Mit ihr fängt er indische Geschichten, den Hauch des Mythischen im alltäglichen Leben ein. „Schon ist sie wieder da, die Liebe, die wie die Götter niemals jemand gesehen hat und von der doch viele glauben, dass es sie gibt…Sie schleicht sich in Lonis schwelgenden Blick, zerfasert ihre Gedanken, stiehlt ihre Sprache und hinterlässt nur ein Stottern.“(S 133)

Die Kapitel heißen z.B: Rosenstraussduellwind, Butterbrotwind, Schaumweinwind, Fickdiekatzewind, Limonenweißwind etc… Der Erzähler ist ein Banyanbaum, dem die Winde die Geschichten zutragen, von Ost, von West, von überall, wo Heimat der Familie ist, über die Kops erzählt. Wer die Poesie dieser Geschichten, die feingesponnene Sprache, die ungewöhnlichen Metaphern erkennt und liebt, dem wird das Buch große Freude bereiten. Wie auch der Autor selbst, haben die Figuren Wurzeln in Indien, also Osten, und in Deutschland, dem Westen. Die beiden Kulturen werden gegenübergestellt, nie aber wertend gegeneinander ausgespielt. Manchmal macht es der Autor dem Leser allerdings schwer, dem Fluss der Erzählung zu folgen, weil die einzelnen Figuren der Handlung immer nur kurz auftauchen, schon erzählt der Wind wieder von einer anderen Figur. Für das Verständnis der Handlung ist die Familiengenealogie zu Beginn sehr nützlich. Man muss zwar jedesmal den Lesefluss unterbrechen, nachblättern, wer mit wem wie verwandt ist, aber ohne diese Info wäre es schwierig den Zusammenhang zu verstehen.

Ein Roman, den man genüsslich, wie eine Tafel feiner Schokolade, Stück für Stück, langsam ins Herz sickern lassen muss.

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Amir Hassan Cheheltan: Eine Liebe in Kairo. C.H. Beck Verlag

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich

Kairo 1947. Der iranische Botschafter – er wird im Roman nur „der Botschafter“ genannt – wird mit einem schwierigen Auftrag nach Kairo beordert: Er soll Fausia, die Schwester des ägyptischen Königs Faruk, zur Rückkehr in den Iran bewegen. Sie ist aus einer unglücklichen Ehe mit dem Schah Mohammed Reza Pahlevi nach Kairo zu ihrem Bruder geflohen und nicht bereit, die Ehe weiter zu führen, geschweige denn, in den Iran zurückzukehren.

Weiters soll der Botschafter dafür sorgen, dass der Leichnam des Vaters Schah Rezas, das wertvolle Edelsteinschwert und Kronjuwelen, die der Schah seiner Gattin schenkte, zurückgegeben werden. Forderungen, die nur schwer durchzusetzen sind. Vor allem erklärt Fausia klipp und klar, dass sie nie mehr iin den Iran zurückkehren wird und sie die Scheidung will. Cheheltan schildert akribisch – zeitweise zu akribisch – die diplomatischen Versuche des Botschafters – alles vergebliche Mühe – die Scheidung ist beschlossen. Dabei flicht der Autor geschickt die damalige politische Lage aus der Sicht der arabischen Welt ein: Die Juden vertreiben die Palästinenser aus ihren Dörfern, nützen die Waffenstillstände, um Waffen zu organisieren, während die arabische Welt tatenlos zusieht. Faruks ausschweifendes Privatleben und die Ignoranz der Hofschranzen, die sich gegenseitig aus der Gunst des Königs herausintrigieren, machen die Bemühungen des Botschafters zunichte. Der Autor leuchtet mit einer großen Lupe in diese schwierige Zeit: die Engländer hinterließen ein politisches Desaster, die Juden verdrängen die Palästinenser und der ägyptische Staat wird von einem Lebemann regiert, der sich nicht um das, Volk und die politische Lage schert. Man wäre versucht, über die vielen Gespräche, die der Botschafter in monotoner Erfolglosigkeit führt, hinwegzulesen, aber ist dann doch von dem historischen Detailwissen des Autors fasziniert. Um dem politischen Trend des Buches einen Romananstrich zu geben, fügt der Autor eine Liebesgeschichte ein: Der Botschafter, ein ziemlicher Frauenheld, verliebt sich in die schöne Sakineh. Sie ist mit einem Langeweiler von einem Mann verheiratet. Bald fragt sich der Botschafter, ob es vielleicht Liebe sei, das ihn an diese Frau bindet. Bindungsängste steigen auf, er zögert, bis Sakineh ihm zu seiner Erleichterung die Entscheidung abnimmt. Er wird in den Iran zurückbeordert und bucht nur ein Flugticket.Mit dieser Liebesgeschichte hält der Autor sehr geschickt das Interesse des Lesers wach, das vielleicht bei den oft ermüdenden diplomatischen Gesprächen erlahmen könnte.

Leser, die mehr über das Entstehen und die Ursachen des Palästinenserkonfliktes, die Rolle des ägyptischen Staates dabei erfahren wollen, werden dieses Buch mit großem Interesse lesen.

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Massimo Carlotto: Und es kommt ein neuer Winter. Folio Verlag

Aus dem Italienischen von Ingrig Ickler

Norditalien ist schon lange nicht mehr die industrielle Vorzeigeregion Italiens. Mittelbetriebe blähten sich zu Großbetrieben auf, lagerten die Lohnarbeit immer mehr in den Osten aus- das System kollabierte.

Massimo Carlotto schreibt nicht Krimis, weil dieses Genre gerade en vogue ist und sich massenweise verkauft. Die Krimihandlung ist der, die Vor-Wand, hinter der er soziale, wirtschaftliche und politische Probleme aufdeckt. Diesmal geht es um industrielle Patrizierfamilien, die sich in eine Region, ein Tal ohne Ausgang, also in eine Art strada caeca, Sackgasse, zurückgezogen haben, wo sie noch als padroni das Geschehen bestimmen können. Neu Zugezogene werden skeptisch beäugt, wenn es sein muss, bedroht oder umgebracht. Wie etwas Bruno, der reiche Immobilieninvestor. Er passt einigen nicht in den Kram. Sein Tod ist rätselhaft, Seine Witwe Federica Pesenti, Tochter des mächtigen Oberpadrone, muss nun das Schlamassel irgenwie beseitigen. Denn Mord geht gar nicht! Er könnte den Ruf der Familie gefährden. Mit Bestechung und Intrigen wird skrupellos die makellose Weste wieder hergestellt. Das Tal kann wieder in Ruhe sein Leben wie früher aufnehmen.

Jeder, der ein wenig über die noch immer aktuellen Machtstrukturen reicher itlienischer Familien Bescheid weiß, wird diesen Roman mit Interesse lesen.

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Sophie Reyer: 1431. Czernin Verlag

1431 ist das Jahr, in dem Johanna in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. In dem „Roman“ schildert Sophie Reyer die Kindheit, die kurze Lebens- und Kampfzeit bis hin zum frühen Tod dieser als „Jungfrau von Orléans“ bekannten Heiligen. Roman im engeren Sinn ist es nicht, auch keine Biographie, dafür sind die Fakten nur angedeutet, manchmal ungenau. Eher ein Prosaepos. Am Ende erfährt der Leser, dass alles eine Art Rückerinnerung ist an ihre Kindheit, ihre Berufung, ihren Ruf ins Kampfgeschehen. Man muss schon die Fakten einigermaßen kennen, um sich in dem Roman zurecht zu finden.

Er zerfällt sprachlich in zwei Teile. Johannas „Erinnerungen“ werden in einer Art hymnischer Traumsequenz geschildert, die zwar der exaltierten. dem religösen Wahn des Kindes namens Johanna angepasst ist, aber den Leseantrieb sehr hemmt. „Das Leben eine Schneewehe. Weh in Federn. Die Bäume, Fichten und Tannen, unter der Last des Schnees gebeugt, sind in die Schlafgrätsche gegangen.“ (15). Im Gegensatz zu diesen hochpoetischen, an manchen Stellen an den Gefühlskitsch grenzenden Schilderungen stehen die nüchternen Verhöre, denen Johanna im Gefängnis unterzogen wird. Der Schluss – Hinrichtung und Epilog oszilliert sprachlich zwischen grausamer Nüchternheit und Poesie des Sterbens. „Das Feuer über ihr. Tod durch Ersticken. Das Kleid ganz verbrannt, Danach hält man das Feuer niedrig. Die Frau wird dem Volk gezeigt, nackt.“ „Da erdrückt Gott ihr Auge. Erschüttert ist die Seele. Gott ist die Seele, die in ihre Tränen leuchtet.“ (beide Zitate p.239)

Sophie Reyer schwelgt in Bildern, die die Grenzen einer Prosa sprengen. Manche dieser Bilder sind wunderschön, manche in sich nicht stimmig. Wenn die Autorin ihrer Sprachgewalt ein wenig die Zügel anlegte, sich von der Selbstverliebtheit in die eigene barocke Üppigkeit distanzierte, entstünde dann sicher ein großartiges Werk.

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Bernhard Schlink: Die Enkelin. Diogenes

Bernhard Schlink gehört zu den besten Erzählern der Gegenwart. Sein Stil ist klar, ohne bemühte Extremformulierungen. Ihm genügt ein kurzer Satz, der eine ganze Person oder Landschaft erfasst. Über die Landschaft der DDR etwa heißt es: „Kaspar wollte sich die Leere des Dorfes nicht trostlos vorstellen, sie sollte ihre Richtigkeit haben.“ (S135). Um die Trunksucht und die Verzweiflung Birgits zu erklären: „Birgit hat ihren Ort in der Welt nicht gefunden (S 229).“ Ein Autor wie Schlink braucht nicht modische Tendenzen aufzugreifen, wie das destrukturierte Erzählen, das jeder zweite Autor heutzutage bemüht..Meist auf Kosten der Leser, denen die Zertrümmerung des Plots oft Mühe und Langeweile beschert.

Anders als der Titel vermuten lässt, wählt Bernhard Schlink nicht die Enkelin als Hauptfigur, sondern Kaspar, einen 70-jährigen Buchhändler. Kaspar ist kultiviert, versucht Menschen, Ereignisse so weit wie möglich ohne Vorurteile zu sehen, alles „soll seine Richtigkeit haben“. Als Student will er die Andersartigekti und die Ähnlichkeit zwischen dem Westen und der DDR kennenlernen und reist noch vor dem Bau der Berliner Mauer zwischen West- und Ostberlin hin und her. Auf einem Fest in Ostberlin lernt er Birgit kennen und bei seinen weiteren Besuchen immer mehr lieben. Er ermöglicht ihr die Flucht in den Westen. Die beiden heiraten. Doch Birgit kann nicht wirklich Fuß fassen, denn sie verheimlicht Kaspar etwas Wesntliches. Als sie ihn kennenlernte, war sie von einem anderen Mann schwanger. Weil dieser sie schmählich in Stich ließ, gibt sie das Kind nach der Geburt weg. Kaspar erfährt davon erst, als Birgit tot ist (Selbstmord ?) und er ihr Tagebuch liest. Seine Recherchen führen ihn wieder in die nun schon ehemalige DDR. Er findet das weggelegte Kind, das nun eine erwachssene Frau ist und in einem Dorf mit Björn, einem fanatischen Anhänger der „völkischen Nationalen“ lebt. Die beiden haben eine 14jährige Tochter, Sigrun. Mit großzügigen Geldspenden besticht Kaspar Björn, damit er Sigrun in den Ferien zu sich nach Berlin holen darf.

Die Fragen und Auseinandersetzungen zwischen dem Großvater und der Enkelin (eigentlich Stiefenkelin) Sigrun bilden den Kern des Romans. Sigrun – ganz von ihrem Vater rechtsradikal erzogen – leugnet vehement den Holocaust. Er sei erfunden, damit sich die Deutschen ihrer Vergangenheit schämen. Wie soll nun der lebenserfahrene, tolerante und unkämpferische Kaspar auf all diese in Sigrun fest vom Vater eingehämmerten Vorurteile und Ansichten vorgehen? Gut durchdacht, spannend bis zum Schluss.

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Die Auseinandersetzung des Großvaters mit seiner Enkelin macht den spannenden Hauptteil der Geshcihte aus. Wie auch im Buch „Der Vorleser“ geht es Schlink auch diesmal um die Aufarbeitung der Geschichte Deutschlands aus der Sicht zweier Generationen und Weltanschauungen.

Abdulrazak Gurnah, Das verlorene Paradies. Penguin Verlag

Aus dem Englischen von Inge Leipold

Abdulrazak Gurnah wurde 1948 im Sultanat Sansibar geboren, ist heute Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er wurde 2021 für seine zahlreichen Romane mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Im zuletzt erschienenen Werk „Das verlorene Paradies“ behandelt er die Umbrüche in Ostafrika um 1900, als Deutsche und Engländer das Land ausbeuteten und kolonialisierten.

Der Vater Jusufs hat hohe Schulden bei „Onkel Aziz“ und muss ihm seinen kleinen Sohn als „Abzahlung“ seiner Schulden mitgeben, was nichts anderes bedeutet als ihn in die Sklaverei zu schicken. Jusuf wird Khalil als Gehilfe und Lehrling übergeben. Er leidet unter starkem Heimweh und den ziemlich unhygienischen Zuständen, hat panische Angst vor den wilden Hunden, die sich des Nachts um sein Lager herumtreiben. Sein Trost ist der Garten des Onkels, in dem er ungefragt und heimlich arbeitet. Aziz nimmt Jusuf auf seinen Reisen durch das Landesinnere mit, damit er das Leben kennenlernt. Sie kommen zu den „Wilden“, wie es im Text heißt, werden ausgeraubt, geschlagen und um ihr ganzes Hab und Gut betrogen. Doch an Jusuf prallt das alles ab, er ist durch seine Schönheit und seine seelische Unschuld geschützt. Zurück im Haus Azizs verliebt er sich in die Zweitfrau seines Onkels, gerät in Schwierigkeiten, weil die Erstfrau ihn begehrt und er sich vor ihr ekelt. Das Ende ist offen.

Gurnah verpackt in diesem Roman, der wie eine Aneinanderreihung von alten Mythen und Erzählungen wirkt und nur durch die Figur Jusufs zusammengehalten wird, alle Probleme dieser Umbruchszeit: Die Grausamkeit und Gier der Kolonialherren, die Grausamkeit und Unkultiviertheit der „Wilden“, die verschiedenen Religionen, der noch immer blühende Sklavenhandel, Zerstörung von Natur und Kultur und vieles mehr. Und genau darin liegt die Schwäche des Romanes: Zu viele Themen werden angerissen, keines tiefer ausgeführt. Jusuf ist eine Lichtgestalt, die in seiner naiven Unschuld sowohl an Parsifal und auch an Josef, der von Potifars Frau begehrt wird, erinnert.

Leider fehlen eine Landkarte, auf der die Reisen nachvollziebar sind, und ein geschichtlicher Überblick über das Gebiet, was damals als „Ostafrika“ bezeichnet wurde.

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Marie Brunntaler, Piz Palü. Eisele Verlag

Der Piz Palü ist ein nicht ganz ungefährlicher Berg in den Schweizer Alpen, nahe bei Pontresina. Auf über 1000m steht das „Grand Hotel Arnold“. In den späten 1950er Jahren ein Treffpunkt der Reichen und vieler Stars, wie etwa O.W. Fischer, hier oben bitte nur „Otto“. Eigentlich sind die besten Tage des Luxushotels schon vorbei. Nur durch eine Geldheirat mit dem reichen Kälin konnte ERika Arnold den Ruin abwenden. Aber die Ehe ist kaputt, es gibt Probleme. Als ihre beiden Kinder spurlos verschwunden sind und der Ehemann im Turmzimmer ermordet aufgefunden wird, geht die Mördersuche los. Der Kriminalkommissar Tschudi steht vor einem Rätsel. Erst durch einen Hinweis von O.W. wird einiges klar.

Ein spannender, flott und leichtfüßig geschriebener Roman über die angeheizte Lage in den 50er und 60er Jahren nach dem Ende des 2. Weltkrieges: Die einen reich und gelangweilt, die anderen scheinreich und verzweifelt, wieder andere in unerträglichen Abhängigkeitsverhältnissen lebend, nach außen aber gelassen und fröhlich. Masken tragen alle, keiner ist der, der er scheint. Mit Eleganz und Noblesse fährt die Autorin durch diese ziemlich verlotterte Gesellschaft mit spitzer Feder durch. Wäre da nicht der pathetisch- unglaubwürdige Schluss könnte man den Roman als gelungenen Spiegel der Nachkriegsgesellschaft einordnen.

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Barbara Frandino, Das hast du verdient. Folio Verlag

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

Barbara Frandino schildert eine Frau, deren Leben aus den Bahnen kippt, weil ihr Ehemann eine Geliebte hat, die von ihm ein Kind erwaretet. Die Ehe war bis dahin von beidseitiger Liebe erfüllt. Das erfährt man nur aus einigen Bemerkungen. Denn der Roman beginnt mit dem Zeitpunkt der Rache: Claudia, so heißt die Protagonistin, aus deren Sicht der Roman erzählt wird, sieht seelenruhig zu, wie ihr Ehemann von der Leiter kippt und am Boden liegen bleibt. Erst nach einer halben Stunde ruft sie die Rettung, sehr spät, wie der Arzt feststellt. Den zum halben Krüppel reduzierten Ehemann holt sie nach Hause und beginnt ein schreckliches Rachegespinst. Ein Ping-Pong, das vom Ehemann aber nicht mitgespielt wird. Der möchte, dass alles so bleibt, wie es einmal war. Sie wartet, lauert, inszeniert eine Racheszene nach der anderen. War man am Anfang noch auf ihrer Seite, so verliert man mit Fortgang der Handlung die Geduld mit Claudia. Zu viele Wiederholungen, ähnliche Aktionen zermürben die Protagonistin und den Leser. Nicht aber den Ehemann, der das alles ziemlich gleichmütig und schweigend erträgt. Aus dieser Hasshölle findet Claudia nicht heraus. Sie erstarrt in Wortlosigkeit, trotz vieler Besuche bei einer Psychotherapeutin.

In einer kalten, punktgenauen Sprache führt Barbara Frandino eine Frau vor, die sich durch ihren Hass selbst zerstört.

Hart, aber glasklar zeigt Frandino auf, wohin die Reise geht.

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Grig(or Shashikyan): Jesus‘ Katze. Geschichten von den Straßen Jerewans

Aus dem Armenischen von Anahit Avagyan und Wiebke Zollmann.

Kolchis Verlag

In Jerewan mir blieb die Luft weg. Nicht so sehr wegen der Abgase, sondern eher vor Staunen. Nach der tagelangen Fahrt durch Natur pur sah ich meiner Ankunft mit gewissem Bangen entgegen. Ich fürchtete, in eine Stadt mit nur grauen Plattenbauten in russischer Einheitsästhetik zu kommen. Die gibt es natürlich. Doch Jerewan überraschte total und gab  zur Begrüßung den Blick auf den Ararat frei. Dieser Berg hat etwas von Ewigkeit an sich. Hier soll Noah mit seiner Arche gelandet sein, rund um ihn entstand das armenische Reich. Dass der Berg heute den Türken gehört, schmerzt die Armenier sehr und lässt ihn umso mehr zum Mythos werden. Sehnsuchtsvoll schauen sie tagtäglich  über den Streifen Niemandsland zu ihm hinüber. Er scheint ja an manchen Tagen zum Greifen nah. Und doch unerreichbar.

Siebzig Jahre russischer Herrschaft haben natürlich die Kultur und Lebensform geprägt. Kluge und mutige Pädagogen wussten um die Gefahr der Normierung. Um Kinder von ästhetischen Stereotypen russischer Prägung zu befreien und ihnen das Bewusstsein eigener Identität zu vermitteln, gründeten mutige Pädagogen Mitte der Siebzigerjahre das Kinderkunstmuseum. Was so harmlos klingt, war eine gewagte Sache. Denn die Russen verboten künstlerische Eigeninitiativen. In privaten Ateliers konnten Kinder zwischen 5 und 12 Jahren frei arbeiten, zeichnen, malen, sticken oder Theater spielen. Viele, die heute angesehene Künstler in Armenien und im Ausland sind, haben  hier ihre künstlerische Laufbahn begonnen und  die Welt mit ihren eigenen Augen sehen gelernt. Deshalb ist dieses kleine Museum ein wichtiges Zeugnis der Selbstbehauptung.

Kunst im öffentlichen Raum spielt in Jerewan eine große Rolle. Es scheint, als ob die Stadt darin ihre Identität findet.  Überall stehen Denkmäler oder Skulpturen, wie etwa die große Dicke von Fernando Botero. Nicht zu vergessen die Genozid-Gedenkstätte, die wie eine schlichte, begehbare Struktur gebaut ist. Oder die  „Kaskade“, ein beliebter abendlicher Treffpunkt der Jerewaner. Über fünf Ebenen steigt man hoch genießt die Aussicht und die Kunstwerke, die ein reicher Armenier gestiftet hat.

Jerewan und im Dunst der Berg Ararat zu ahnen

©Silvia Matras

Ob der junge armenische Autor Grig (die ersten vier Buchstaben seines Vornamens), der mit dem Erzählband „Jesus‘ Katze“ viel Anerkennung erntete, auch in der geheimen Kunstschule seinen künstlerischen Weg nahm, weiß ich nicht. Fest steht, dass die Armenier ihr ganz eigenes Kunstverständnis und Kreativität trotz russischem Einfluss entwickelt haben. Dieser Erzählband ist dafür das beste Beispiel. Die Geschichten handeln von Menschen „am Rande der Gesellschaft“, wie es allgemein euphemistisch heißt. In Wahrheit sind es Menschen, die am Rande ihres Lebens stehen, aber ihren Stolz bewahren. So in der ersten Geschichte „Der kleine Mann“, die wohl zu den berührendsten des Bandes zählt. Sie handelt von einem Maler, der immer die gleichen Wolkenbilder malt, sie aber unterschiedlich benennt. Still, ohne für sich zu werben, stellt er sie in dem Park im Zentrum aus. Menschen gehen vorbei, keiner kauft. Bis er am Schluss alle vor der Kunstkaskade verschenkt, die Aktion in einem eigenartigen Tanz unter den Schneeflocken begleitet. Vielleicht hatte er den Verstand verloren.

Die einzelnen Geschichten steigern sich in der Skurrilität immer mehr, es kommt der Punkt, an dem man aussteigt, weil man den Kapriolen des Autors nicht mehr folgen kann. Trotzdem – dieses Buch ist wie ein Seelenspiegel der Armenier, spiegelt ihren Stolz, ihre Phantasie, ihre Überlebensstärke wider. Deshalb ist es wervoll.

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Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Matthes-Seitz Verlag

Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer

Die Autorin ist Anthropologin und Schriftstellerin. Ihre Forschungen konzentrieren sich auf indigene Völker, die den westlichen Kulturen Widerstand leisten.

Eine ihrer Reisen führte sie nach Kamtschatka zu dem Volk der Ewenen, wo sie deren Lebensformen und Mythen erforscht. Auf einer Bergtour in menschenleerer Wildnis wird sie von einem Bär angegriffen: “ …das geschwollene , zerrissene Gesicht gleicht sich nicht mehr,…ich bin diese undeutliche Form, deren Züge in den offenen Breschen des mit Blut und Sekreten verschmierten Gesichts verschwunden sind.“ Wie durch ein Wunder wird sie von einer alten Frau aus dem Volk der Ewenen gerettet, die ihre Wunden versorgt. Im russischen Spital für Kriegsverwundete wird sie operiert, zwei weitere Operationen erfolgen in Frankreich. Die Wunden heilen, das neue Gesicht gehört ihr noch nicht. Sie kehrt zurück an den Ort, wo sie dem Bär begegnete. Es geht ihr um Verstehen. Der Bär wird zum Symbol für die Frage, wie wir Menschen mit der wilden, von Menschen unberührten Natur umgehen. Sie stellt sich der Erkenntnis, dass in ihr der Bär nicht nur optische Spuren hinterlassen hat, sondern einen Teil ihrer Seele erfasst hat. In Morphinträumen erkennt sie hellsichtig, dass sich in ihrem hybriden Körper westliches, technologisches Wissen und das Wilde, der Bär vereinen.

Schon als Kind, so Nastassja Martin, war sie von allem Wilden, den Wäldern, den Bergen, den Akrobaten und den Geschichtenerzählern fasziniert. Gegen Schule, Stadt und Beton wehrte sie sich und studierte Anthropologie, wobei sie vordringlich vom Animismus der Urvölker wie eben der Ewenen fasziniert ist.

Mit ihrer präzisen Sprache leuchtet Nastassja Martin seelische Innenräume aus, wo Autoren sonst kaum vordringen. Mit erstaunlicher Klarsichtigkeit führt sie zwei Welten zusammen, die der Wildnis, in der Bären Menschen angreifen, und die des Vertrauten, sagen wir der Normalwelt. Sie erreicht dabei die Grenzen des Denkens und sucht Antworten auf die Fragen: Was ist Natur, was ist unsere westliche Welt? Immer wieder erfassen sie Erinnerungen an den Kampf mit dem Bären, Gedanken, die sie selbst nur schwer ausformulieren kann, da sie sich der weltlichen „Formel“ widersetzen. Aber letztendlich kehrt die Autorin aus dieser „Bäreneinsamkeit“ immer wieder in die „moderne, zivilisierte Welt“ zurück. Sie braucht beide Seiten der Existenz.

„An das Wilde glauben“ ist eine Autobiographie. Martin geht aber weit darüber hinaus, verlässt den erzählerischen Raum und verliert sich in ihrer vom Animismus beeinflussten, beherrschten Gedankenwelt, der zu folgen der Leser Geduld und Aufmerksamkeit entgegen bringen muss, soll. Ja, soll. Denn es zahlt sich aus, sich in Martins Universum auszuliefern.

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Ich möchte auf ein Buch hinweisen, das sich ähnlich sprachgewaltig auch mit der Frage, wie wir mit den letzten Refugien der Wildnis umgehen, beschäftigt:

Siehe meine Buchbesprechung !

Polly Clark: Tiger. Eisele Verlag

Aus dem Englischen von Ursula C. Sturm

„Der Wald argumentiert nicht. Der Wald lügt nicht. Der Wald fordert von dir nichts weiter als Respekt. Und der Herrscher über den Wald, der Zar, ist der TIGER.“

Dieses, dem Roman vorangestellte Zitat, umfasst das Thema: Respekt vor der wilden, ungezähmten Natur!

Die Autorin nennt ihr Buch einen Roman. Aber eher sollte es heißen: Vier Erzählungen um das geheimnisvolle Wesen „Tiger“.

Es beginnt mit einem Prolog. Wie viele Männer in der russischen Taiga träumt auch Dimitri davon, einen Tiger zu erlegen und durch den Verkauf des Tieres immens reich zu werden. Doch es kommt anders: Der König des Waldes stürzte sich lautlos auf ihn, schlug seine Zähne in das Fleisch des Menschen, dem keine Zeit mehr blieb, Angst zu empfinden. „Dimitri blieb nur noch eines: in das Antlitz des Göttlichen bis in alle Ewigkeit zu schauen, und in seinem Blut und in jeder Zelle seines Körpers die wahre Ordnung der Natur zu spüren.“

In dieser bildgewaltigen, atemlos machenden Sprache peitscht Polly Clark den Leser durch das Schicksal verschiederner Protagonisten, die alle in irgendeiner Weise der Faszination „Tiger“ erliegen

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Teil eins: Frieda

Frieda ist mit Leib und Seele Tierforscherin. Eines Tages wird in einem englischen Zoo eine Tigerin erwartet, die dem deprimierten Zootiger Lust auf Sex machen und für Nachkommen sorgen soll. Als Betreuerin wird Frieda eingesetzt. Sie hat noch keine Erfahrung mit der Spezies Tiger, beobachtet die durch Verwundungen und Transport gereizte Tigerin fast rund um die Uhr. Wagt sich ungeschützt in den Käfig, weil sie glaubt, das Vertrauen des Tieres gewonnen zu haben, und wird von der Tigerin angefallen. Schwer verwundet kann Fieda noch einen Betäubungsschuss setzen, bevor sie ohnmächtig wird. Frieda hat sich, genau so wie der Fallensteller Dimitri, in einen Kampf mit der ungezähmten Natur eingelassen und verloren. Zwei Warnungen, die die Erzählerin dem weiteren Verlauf ihres „Romans“ voranstellt.

Teil zwei: Tomas

Schauplatzwechsel: Im äußersten Osten Russlands leiten Vater Iwan und Sohn Tomas ein etwas herabgekommenes Reservat, das den wenigen noch lebenden Tigern in der Taiga Schutz und Freiraum sichern soll. Sie kämpfen gegen die Macht der Geldhaie, die auch die letzten Winkel der unberührten Natur vermarkten wollen.Eines Tages bricht Tomas in den von Menschen noch nie betretenen Wald auf, um mit Kamerafallen Bilder von der „Gräfin“, wie sie die dort lebende Tigerin nennen, zu bekommen. Was er aus den Spuren lesen kann, ist ein wilder Lebenskampf zwischen der Tigerin und einem Bär. Und dann entdeckt er auch Spuren einer Frau.. Er entdeckt ein Drama: Vor einer Hütte liegt die Tigerin, unter ihr begraben die Frau. Beide tot. Daneben ein Mädchen. Sina wird sie heißen und er wird sie und das Tigerjunge der Gräfin ins Reservat mitnehmen

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Teil drei: Edit

Edit stammt von den Udehe, den letzten Ureinwohnern der Taiga. Sie lebt mit dem Russen Waleri in einem Dorf in der Taiga. Als dieser eines Tages eine Tigerin im Käfig gefangen ins Dorf bringt, verlässt ihn Edit. Tiger sind für die Udehe heilige Wesen. Sie nimmt ihre dreijährige Tochter Sina mit und lebt mit ihr in der Tiefe des dichten Waldes, lehrt sie alles, was zum Überleben wichtig ist. Beide überstehen in dieser wilden, unberührten Natur Eiseskälte, Hunger und Hitze. Bis eines Tages die Gräfin sich der Hütte nähert. Edit elingt es, sie tödlich zu treffen, wird aber von der todwunden Tigerin zu Tode gebissen. Hier schließt sich der Kreis der Personen: Tomas wird Sina finden und mitnehmen.

Teil vier: Tiger

Polly Clark scheut sich nicht, die Geschichte der Gräfin zu erzählen und dabei gleichsam hinter die Augen und Ohren, in das Gehirn des Tieres mit der menschlichen Sprache zu dringen. Das gelingt ihr überzeugend gut. Dank ihrer Recherchen für dieses Buch hielt sich Polly Clark monatelang in der russischen Taiga auf den Spuren der Tiger auf. Ohne das Verhalten der Gräfin zu humanisieren, begleitet sie das Tier auf ihren Streifzügen, beschreibt die Geburt der beiden Tigerjungen, die verzweifelte Suche nach Nahrung. Berührend der Tod des einen Jungtieres, ihr wütender Angriff auf die Hütte.

Übergangslos führt die Autorin wieder in das Dorf, wo Sina nach dem Tod ihrer Mutter aufwächst. Und wieder übergangslos landet plötzlich Frieda in diesem Dorf. Mit im Gepäck zwei Tigerjungen aus dem Zoo, die nun zur Auswilderung vorbereitet werden. In dieser allzu gewollten Zusammenführung ihrer Figuren liegt vielleicht das einzige Stolpersteinchen. Aber letzendes genießt der Leser die präszisen und doch hochpoetischen Beschreibungen. Die kleinsten Details bekommen fast mythische Bedeutung. Ein „Roman“, wenn man denn so will. Aber die Bezeichnung tut nichts zur Sache. Wichtig ist Sprachgewalt, mit der die Autorin das Wesen der Tiger erfasst, die letzten unberührten Winkel der Natur schildert. Bilder, die in die Seele eingehen und dort bleiben

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Ein ähnlich sprachgewaltiges Buch mit ähnlichem Thema sei hier erwähnt:

Nastassja Martin, An das Wilde glauben. Die Anthropologin Nastassja Martin wird in der Taiga von einem Bären in den Kopf gebissen und schwer verletzt. Es ist die Geschichte ihrer Genesung und zugleich eine intensive Begegnung mit ihrem Selbst und der Wildnis. (siehe auch meine Buchbesprechung)

Gesuino Némus, Die Theologie des Wildschweines

Aus dem Italienischen von Sylvia Spatz

EIN SARDINIEN-KRIMI steht auf dem Cover. Sardinien ja, Krimi -eher nein. Denn die „Lösung“ gibt es nicht wirklich, sie ist so absurd wie das ganze Buch. Daher hier meine Warnung: Nur Leser mit Sardinienerfahrung werden ihre Freude an dem Buch haben und Figuren aus ihrem eigenen Sardinienspektrum bestätigt finden. Alle anderen werden das Buch als überdrehtes Hirnjogging abtun.

Sardinien in den späten 60er-, Anfang 70er Jahren. Damals und auch noch bis in die 90er waren Kidnapping, Mord und Erpressung an der Tagesordnung, Fremde -sprich Menschen aus dem „continente“, wie die Sarden Italien nannten, stießen in Gesprächen schnell auf eine Schweigemauer. Dass Aga Khan die Costa Smeralda mit Promihotels besetzte – verschandelte – ist an den meisten Sarden so was von nicht bemerkenswert vorbei gegangen, Es sei denn, sie gehörten zu den armen Würsteln, die damals um fast kein Geld ihren Grund an Aga Khan und Nachfolger verkauft hatten.

Der Rest der Sarden war eher damit beschäftigt, sich gegen die Gesetze vom „continente“ zu wehren, wie etwa als ein Atomkraftwerk in den Bergen von Orgosolo angedacht war. Aber darum geht es nicht in diesem Buch. Sondern ganz grundsätzlich um die typischen Charaktere des eigenwilligen Volkes der Sarden. Ein Toter wird, nur oberflächlich vergraben, im Wald ganz nahe bei dem Bergdorf Televras gefunden. Der Carabiniere De Stefani ist mit der Lösung des Falles betraut, aber als Piemonteser total überfordert. Denn keiner würde ihm, dem „Fremden“, auch nur ein Sterbenswörtchen verraten. Schon gar nicht der Pfarrer Don Cossu. Er weiß alles über seine Schäfchen, hält aber dicht. Mord, Erpressung, Betrug, Vergiftung – er weiß Bescheid, schweigt aber. Der Carabiniere Piras ist ein gebürtiger Sarde, weiß auch viel, würde auch nichts verraten. „Er erwartete für sein Stillschweigen keine Gegenleistung. Er begriff einfach, wie das nur Sarden begreifen können, was es hieß, arm zu sein: schweigend und würdevoll.“ (p.68). Das ist einer der Kernsätze des Buches. Was nicht heißt, dass der Autor, selbst gebürtiger Sarde, Mord und Erpressung gut heißt, nur weil das Verbrechen von armen Sarden begangen wird. Im Grunde geht es um Verständnis für Menschen, die ums Überleben kämopfen. Sie haben nicht viel, eine Herde Schafte, Ziegen und die Natur. Wenn sie Menschen gekidnappt und Lösegeld erpresst haben, so ist das theoretisch ein Verbrechen, aber für den Pfarrer und den einheimischen Polizisten ein verstehbares Verbrechen. Ich möchte das hier durch ein eigenes Erleben verstehbar machen:

In den frühen 90er Jahren war Kidnapping auf Sardinien noch en vogue. Besonders die Bewohner von Orgosolo waren da eifrig tätig. Als ich eine Reportage über diesen Ort in den Bergen, zu dem es damals nicht einmal eine Hinweistafel auf den Straßen gab, vorbereitete, warnte man mich: Fahr nicht hin, schon gar nicht allein. Ich fuhr, stellte mein Auto vor einer Bar ab und übergab die Schlüssel dem Besitzer, um sicher zu gehen, dass ich es wiederbekomme.Im Ort sprach man viel über die letzte Entführung einer Bankierstochter und darüber, dass die Behörde Leute aus Orgosolo verdächtigte. Es war gerade ein großes Fest imgange, irgendein Ortsheiliger wurde gefeiert. Ich hörte den Pfarrer predigen. Er sprach über Armut und eine neue Art der Gerechigkeit. Nach der Predigt fragte ich ihn, ob er die Entführer verurteile. Klare Antwort: Nein! Und wenn er sie auch kenne, werde er sie niemals verraten. Denn er habe Verständnis für die Lage der Menschen hier – Armut und das Wissen, der Willkür des Staates – il continente – ausgeliefert zu sein, sind der Boden, wo Gewalt gedeiht. Er verurteile keinen einzigen seiner Schäfchen, beteuerte er nochmals. Es dauerte ein halbes Jahr, dann fand man die Entführte: Sie lebte gemütlich im Haus der Großmutter des Entführers. Das Haus stand direkt neben der Unterkunft der Carabinieri.

Zusammenfassung: Man schmunzelt beim Lesen über die einzelnen Figuren, die skurril, absurd und dennoch sehr menschlich geschildert werden. Allerdings muss ich gestehen, dass ich die Bedeutung der „Theologie des Wildschweines“ überhaupt nicht verstand. Ist ja kein Wunder, ich bin keine Sardin!

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Erika Pluhar: Hedwig heißt man doch nicht mehr. Residenz Verlag

„Hedwig saß am Fenster und sah in den Hinterhof hinaus. Der war lichtlos und grau, wie damals, als ihre Großmutter hier saß und hinausschaute.“

So beginnt der bedrückende Roman über Großmutter Hedwig und ihre gleichnamige Enkelin. Nach dem Tod der Eltern wird die 12jährige Hedwig von ihrer Großmutter erzogen. Vielleicht nicht mit offen gezeigter Liebe, aber sicher mit Sorge und einer Liebe, die unter der Kruste wirkt. Strenge Regeln gibt es, oberstes Prinzip für das Kind: brav sein und in der Schule Erfolg haben. Dem folgt Hedwig ohne Murren, sie besteht die Matura mit Auszeichnung, studiert an der Universität Wien Publizistik. Die Großmutter ist stolz auf ihre Enkelin. Die aber haut bei Nacht und Nebel ohne Abschied und ohne Gruß ab und rührt sich 25 lange Jahre nicht bei ihrer Großmutter. Das ist die Ausgangslage, die der Leser erst einmal verdauen muss. Eine Ungerührtheit und Eiseskälte. Keine Nachfrage von der Enkelin, ob die Großmutter noch lebt, gesund ist. Nur durch Zufall erfährt sie, dass die Großmutter vor zwei Jahren gestorben ist und ihr die Wiener Wohnung in der Josefstadt vermacht hat.

Nun sitzt also die Enkelin nach mehr als 25 Jahren auf dem Sessel der Großmutter und schaut auf den grauen Hinterhof. Der Leser ist neugierig, wie diese 51 jährige Hedwig ihren grausamen Abgang sieht, ob sie nachforscht, wie es der alten Frau ergangne ist. – nix da. Sie reflektiert ihr ach so trauriges Leben in Berlin, Hamburg und Lisabon, erzählt ihrer Großmutter sozusagen als Wiedergutmachung das Auf- und Ab ihrer Befindlichkeiten in den letzten 25 Jahren. Während sie diese Rückschau auf die Vergangenheit schreibt, meldet sich hartnäckig und sehr verständnisvoll ein Mann bei ihr an. Er lädt sie zum Essen ein oder kocht für sie, aber nur wenn es Hedwig genehm ist. Spielt ihr Musik vor, aber nur solche, die Hedwig mag. Kurz – ein Mann wie aus einem Bilderbuch, oder wie die Wiener auch sagen: wie aus dem Backofen gebacken.

Irgendwie lässt einem der Roman unbefriedigt zurück. Denn diese Lebensbeichte Hedwigs nützt der toten Großmutter aber schon gar nichts. Die Enkelin schreibt alles nieder als eine Art Selbsttherapie, ohne dass auch nur ein Hauch von Frage, wie wohl die alte Frau mit diesem Abgang fertig geworden wäre. in ihr aufkeimt.

Wie sie diesen “ Wundermann“ behandelt – man könnte sagen abkanzelt – und der trotz allem immer wieder kommt, auch das wirkt irgendwie lebensunecht. Wollte uns Pluhar die Kälte einer Generation vor Augen führen, der Empathie und Mitdenken fehlen? .

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