Barbara Krause: Camille Claudel. Ein Leben in Stein. Herder Verlag

Ein großartiges Buch über eine großartige Frau! Bestechend im Stil: Einmal hoch poetisch, dann wieder kühl aufzählend. Die Autorin führt die Leser bis tief in die Seele der jungen Claudel, die schon als Kind wusste, dass sie Bildhauerin werden wollte – und das in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man von Frauen nur erwartete, dass sie Klavier spielen, kochen und Kinder aufziehen können. Die Mutter ist dagegen, ihr Vater unterstützt sie und versteht ihren künstlerischen Drang. Als sie die „Schülerin“ Rodins wird, beginnt eine intensive Zeit des Lernens für Camille Claudel. Bald schon ist sie nicht mehr Schülerin, sondern seine Muse, Beraterin und später Geliebte. Doch sie leidet unter der Beziehung, auch daran, dass Rodin nicht eingesteht, dass viele Ideen für seine WErke von ihr kommen, zum Teil auch von ihr verwirklicht wurden. Das grausame Schicksal dieser Kämpferin nimmt seinen Lauf…

Silvia Matras empfiehlt dieses Buch!!!

Brigitte Glaser, Bühlerhöhe. Listverlag

Selten gibt es eine Sommerlektüre mit Niveau! – Brigitte Glaser erfüllt diesen Wunsch punktgenau! Sie ist eine äußerst begabte ERzählerin, zieht den Leser in das Geschehen hinein, und man kann so schnell nicht aufhören. Geschickt verflicht sie die Geschichte Israels nach dem 2. Weltkrieg mit der Geschichte Deutschlands. Bundekanzler Konrad Adenauer will unbedingt das Wiedergutmachungsgesetz durchbringen. Als er wie immer im Nobelhotel Bühlerhöhe Urlaub macht, fürchtet man ein Attentat auf den Kanzler. Manche Gruppierungen – sowohl israelische als auch deutsche – wollen dieses Gesetz verhindern. Aus Israel wird Rosa Silbermann in das Hotel geschickt, um eventuelle Attentate aufzudecken oder sogar zu verhindern. Ihr zur Seite soll Ari, ein gewiefter Geheimagent, der für Israel arbeitet, stehen. Nun ist Rosa Silbermann wider ihren Willen zur Agentin avanciert. Sie erregt bald den Argwohn der Hausdame des Hotels,Sophie Reisacher. Es kommt zu einem recht unterhaltsamen Katz- und Mausspiel, man erfährt einiges über die schwierige Führung eines Grand Hotels und die Gepflogenheiten des Kanzlers, der ja tatsächlich in diesem Hotel, das bis heute existiert, aber zur Zeit geschlossen ist, in den 50er Jahren Urlaub machte. Das im Roman versuchte und verhinderte Attentat im Hotel hat allerdings nicht stattgefunden.
In der politischen Realität dauerte die Debatte um das Wiedergutmachungsgesetz tatsächlich lange an und wurde heftig geführt. Im Vorfeld gab es auch zwei Attentatsversuche – allerdings nicht im Hotel. Der Kanzler wurde nicht verletzt.Im September 1952 unterzeichnete Deutschland ein Abkommen mit Israel und zahlte 3 Millionen DM als Wiedergutmachung an Israel.
Brigitte Glaser hat sorgfältig recherchiert und geschickt die politische Realität dieser Nachkriegszeit mit einem humorig- spannenden Romanplot gemischt.

Julya Rabinowich, Krötenliebe. Deuticke

Ein Buch, das jeden fesseln wird, der sich für Alma Mahler-Werfel und die Wiener Gesellschaft um 1900 interessiert. Noch dazu brillant geschrieben und gründlich recherchiert. Alma, die Männer vergiftet, Alma, die Männer anzieht, von sich stößt, wie es ihr gefällt. Alma ohne Glorienschein. Aber nie reißerisch, eher hoch poetisch. (Allerdings vermisst man manchmal das wachsame Korrektur- Auge eines Lektors!)Schon das Titelbild sagt alles aus: Vier Glasgefäße, in einem ein Lurch, dann Kokoschka, im mittleren Glas Alma, rechts der Naturwissenschaftler Paul Kammerer. Es beginnt mit Dresden 1918, Kokoschka hat sich nach der Trennung eine Almapuppe machen lassen. Doch der sexuelle Akt mit ihr befriedigt ihn keineswegs. Er tobt gegen Alma, verwünscht sie und begehrt sie. Dass wir, die Leser und Nachwelt, überhaupt erst einmal etwas über diesen genialen Naturwissenschaftler Paul Kammerer erfahren, ist das Verdienst der Autorin. Sie brachte diese tragische Figur ans Tageslicht, seine aussichtslose Liebe zu Alma, seinen verzweifelten Selbstmord. Ein faszinierendes Buch, man möchte es in einem Atemzug durchlesen. Aber dazu ist die Sprache zu kostbar. Die sollte man seitenweise genießen. Das Abstoßende, Abgründige ist selten noch in so schlicht-kostbare Sätze gegossen.
Silvia Matras empfieht: J. Rabinowich, Krötenliebe!!!!!

Margaret Mazzantini, Niemand rettet sich allein. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Dumont

Delia und Gaetano treffen sich in einem Restaurant in Rom, um über ihre Trennung zu reden. Es geht um die Erziehung der Kinder, wie sich ihrer beider Zukunft gestalten wird. Jeder für sich alllein. Obwohl sie sich vor der zukünftigen Einsamkeit fürchten, gibt es kein Zurück in die Zweisamkeit. Ein sehr genaues Bild, wie eine Ehe langsam in die Brüche geht. Kein Buch für traurige Tage. Denn es gibt keinen Trost, kein Happyend.
Mazzantini beobachtet die kleinsten Regungen ihrer Protagonisten mit sehr viel Einfühlungsvermögen. Das kann manchmal etwas nerven und man ist geneigt, quer zu lesen. Doch dann ist man wieder mitten im seelischen Dilemma der beiden, erkennt eigene Probleme wieder. Ein Roman, dem man mit Geduld begegnen sollte.

Clementine Skopril: Guter Mohn, du schenkst mir Träume. Löcker Verlag

Die Autorin nennt ihr Buch „Kriminalroman“. Aber die Krimistory ist eher dünn und die Auflösung sehr unklar. Jedoch: Clementine Skopril kennt die Geschichte Chinas um 1927 und das Leben damals in Shanghai bestens, leider zu gut. Sie mutet uns unbedarften Lesern einfach zu viel zu. Obwohl sie ein Verzeichnis der erfundenen und historischen Personen voran stellt, tut sich der Leser schwer, mit all den chinesischen Gruppen, Untergruppen und Gegengruppen, den russischen Drahtziehern und letztlich auch den weißen Langnasen, wie die Chinesen die Westler nannten, zu Recht zu kommen. Der Verlauf der Handlung wird immer wirrer und unklarer, man beginnt quer zu lesen.
Die Story beginnt amüsant: Der Icherzähler Wen Pi ist ein armer Schlucker aus dem Elendsviertel Shanghais. Er schlägt sich so recht und schlecht durchs Leben, bis er bei dem Medizinstudenten Lou Mang unterkommt und lesen und schreiben lernt. Seine Informationsquelle über das Leben der weißen Langnasen wird „Anna Karenina“. Jedes Kapitel beginnt mit Gedanken über die Figuren dieses Romans, deren unnötige Sorgen er seinen Problemen in witziger Weise gegenüber stellt. Da kommt schon auch uns Lesern der Gedanke, um welch unwichtige Dinge wir uns sorgen..auf hohem NIveau. Amüsant ist auch, wie WEn Pi so langsam die Fortschritte der Technik kennenlernt und wie er sie benennt: Das Telefon -damals noch brandneu und nur für die Reichen -nennt er elektrischen Sprecher aus zwei Teebechern an der Schnur. WEgen dieser liebenswürdigen Details liest man den Roman gerne.
Dass die Revolution, die der Student Lou Mang mit seinen kommunistischen Kampfgefährten anzettelt, fehl schlägt, ist zwar traurig, aber da fehlt dem Leser die Empathie. Denn er muss sich durch ein Gewirr von Namen und Ereignissen durchkämpfen, bis er erschöpft am Ende angelangt ist.

Marget Greiner, Charlotte Berend-Corinth & Lovis Corinth

Sie hat’s schon wieder getan! Eine Romanbiografie über eine tolle Frau geschrieben! Und wieder ist es wie die Lebensgeschichte der Emilie Flöge ein Buch geworden, zu dem man nur sagen kann: SCHADE, dass es schon aus ist. Ich habe mir jeden Tag nur 10 Seiten verordnet von dem Suchtmittel. Und wünschte mir am Ende, dass das Buch noch 200 Seiten mehr hätte. Denn Margret Greiner kann, wie keine andere Autorin, die Protagonistin – in dem Fall die lebenstüchtige Charlotte Berend – so intensiv vor unser Auge und Herz rücken, dass man nur ungern von ihr Abschied nimmt. Charlotte Berend ist jung und keck. Sie dringt in das Atelier des brummigen Corinth ein, wird seine Schülerin, dann seine Geliebte und später seine Ehefrau. Corinth ist kein einfacher Mensch, ganz Künstler und daher auf sich selbst konzentriert. Charlotte hält all die Demütigungen, die er ihr bewusst und unbewusst zufügt, tapfer aus. Obwohl sie als Künstlerin und schöne Frau von anderen Männern begehrt wird, bleibt sie bei Corinth. Als er stirbt, verkriecht sie sich in ihrer Trauer, um nach 2 Jahren zu sich selbst, zu ihrer Malerei und zu ihrer Lenbensfreude zurückzufinden. Man erfährt viel über das verrückte Berlin der 20er Jahre, über Frauen, die alleine durch den Kontinent reisen, über den Künstler Corinth. Was fehlt, sind Fotos. Ich wäre schon neugierig auf Charlottes Porträtmalerei oder italienische Landschaften. Auch wollte ich gerne wissen, wie die beiden miteinander auftraten. Wie war Charlotte als viel gerühmte Schönheit? Auf dem Titelbild sieht sie eher pummelig und uninteressant aus.
Mein Tipp: Dieses Buch langsam genießen und dabei die hohe Sprachkultur der Autorin bewundern.

Jona Oberski, Kinderjahre. Aus dem Niederländischen von M. Csollány. Diogenes Verlag

Jan Oberski schildert aus der Perspektive eines Kindes die Grauen des Konzentrationslagers von Bergen-Belsen. Dabei nimmt der Autor die Position des Kindes ein, das mit 4 Jahren deportiert und erst mit sieben befreit wird. „Meine Mutter hatte einen gelben Stern auf meinen Mantel genäht. Sie sagte: Sieh mal, jetzt hast du genau so einen schönen Stern wie Papa. Ich fand ihn zwar schön, aber ich hätte doch lieber keinen Stern gehabt.“ Die Eltern versuchen dem Knaben, das Grauen fernzuhalten, es auf eine kindliche, märchenhafte Welt herunterzubrechen. Das Kind durchschaut zwar die Grausamkeit,erklärt sich sie sich zunächst auf seine Weise: „Ich guckte und sah einen Soldaten in grünen Kleidern mit einem großen braunen Hund. Der Hund sah aus wie der Wolf vom Rotkäppchen.“ Doch als sein Vater im Lager stirbt, fällt diese kindliche Schutzperspektive brutal weg. Und als auch seine Mutter stirbt, fällt er in ein tiefes Koma, aus dem er erst nach vielen Tagen erwacht. Da waren bereits die Insassen aus dem Lager befreit und er mit seiner Tante auf dem Weg in seine Heimatstadt Amsterdam. Sie wird ihn adoptieren. Aber er bleibt lange ein traumatisiertes, schwieriges Kind,das seinen Pflegeeltern eine ganze Menge auszuhalten gab, wie er in einem Nachsatz schreibt.
Jan Oberski schildert das Grauen, das er selbst als Kind erlebte, mit den Worten und Gedanken des Kindes, das er einmal war. Durch diese einfache, kindliche Sprache wirkt das Buch direkt in das Herz des Lesers hinein.

Silvia Matras empfiehlt: Jan Oberski, Kinderjahre

Benedict Wells, Fast genial. Diogenes Verlag

In der in Literatur und Film immer wieder gern verwendeten Form eines Roadmovies schildert Wells die wahre Geschichte eines Jungen aus einem Containerviertel, der auf der Suche nach seinem Vater quer durch die USA tourt. Der Haken ist dabei, dass sein Vater ein unbekanntes Genie gewesen sein soll, der seinen Samen einem Forschungsprojekt zur Verfügung stellte. Das eine Zentralthema des Romans ist also die Frage nach Eugenik und ob ein „futurebaby“ ethisch und moralisch zu rechtfertigen ist. Dabei erinnert sich der Leser unwillkürlich an Dürrenmatts Drama „Die Physiker“, wo das Thema der Umsetzbarkeit von wissenschaftlichen ERkenntnissen behandelt wird. Was einmal von findigen Köpfen gedacht und erfunden ist, lässt sich ja nicht mehr tilgen. Es bleibt virulent und gefährlich, wie schon die Frage nach der Atombombe zeigt. Segen oder Fluch der Wissenschaft? – Wells formuliert das so: „Die Leute vergessen nur, dass jede Tür, die einmal geöffnet wurde, nie mehr geschlossen werden kann. Was machbar ist, wird auch getan, egal, wie gefährlich es ist.“(S 178)
Inhaltsmotor des Romans ist die 2. wichtige Frage: Wie geht es einem „Designerbaby“, das nach langer Suche seinen Vater als versoffenen Looser findet. Von Genie keine Spur.Damit muss der Sohn Francis fertig werden.
Wells behandelt die Elternfrage ja auch in dem Roman „Ende der Einsamkeit“. Was passiert, wenn Eltern fehlen, versagen?
Ein Roman, den die junge Generation sicher interessieren kann.

Gioacchino Criaco, Schwarze Seelen. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag

Criaco schreibt so, wie er seine Protagonisten leben lässt: wild, sich um keine Klarheiten kümmernd. Der Roman – wenn es denn einer ist – spielt überall dort in Italien, wo Entführung, ERpressung, Mord und Bestechung zum täglichen Ritual wie Zähne putzen oder essen und trinken gehört. Die männliche Jugend des Dorfes Africo in Kalabrien geht vormittag in die Schule, nachmittag bewachen sie „Schweine“ – so werden die Entführungsoper genannt. Manchmal kommt so was wie Zweifel an dem Tun auf. Aber immer siegt der Wunsch nach Geld. Ein Postraub bringt ziemlich viel, hält aber die Burschen nicht ab, weiter zu morden und zu entführen. Die Freunde enden in einem bombastischen Showdown: Einige sterben bei dem Versuch, der Verhaftung zu entkommen, einige landen im Gefängnis.
Ermüdender Stil.

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit. Diogenes Verlag

Drei Geschwister -zwei Brüder und eine Schwester -bilden eine „liebe Familie“, die besonders durch die Mutter zusammengehalten wird. Als die Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, zerbricht alles. Die Normalität gibt es nicht mehr. Nach vielen Jahren, in denen sie wenig voneinander hören, kommen sie wieder zusammen. Jules, der Jüngste, hat unter dem Verlust der Eltern am meisten gelitten. Marty, der ältere Bruder, ist erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Die schöne Liz hat den Boden unter den Füßen ganz verloren, hält sich einen Liebhaber nach dem anderen und kifft sich aus der Realität weg.
2. Teil: Jules ist erwachsen, hat zwei Kinder. Er hat seine Jugendliebe Alva geheiratet. Doch nach acht glücklichen Jahren stirbt Alva an Krebs. Jules rast mit seinem Motorrad gegen einen Baum, überlebt und nimmt das Leben neuerlich an.
Tief im Inneren des Romans geht es um die möglichen und unmöglichen Formen der Liebe und der menschlichen Beziehungen. Da ist einmal die Beziehung der Geschwister untereinander. Sie streiten, sehen einander jahrelang nicht, aber es gibt zwischen ihnen einen tiefen Zusammenhalt. Dann gibt es die unverwirklichbare Liebe Tonis zur schönen Liz, die zwar viele Männer hat,aber immer von einer unerreichbaren Liebe träumt. Für Marty ist Liebe nur ein Wort. Ihm ist Zufriedenheit wichtiger. Zentrum des Romans bildet die tiefe und ausdauernde Liebe Jules zu Alva. Als sie stirbt, beginnt für Jules die Zeit des Erinnerns. Er erkennt, nur wenn er die Menschen an sich heranlässt, gibt es auch Erinnerung und kann er der Einsamkeit entkommen.
Benedict Wells weiß mit dem großen Wort Liebe behutsam und ohne Scheu umzugehen. Gerät nie ins Klischeehafte, obwohl er die Beziehungsformen durchaus auch im Alltäglichen auslotet. Ein Buch, das gut tut.

Arnon Grünberg, Amour fou. aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Diogenes Verlag

Daniel Kehlmann schrieb zu dem Roman ein Vorwort, das auf den Autor neugierig macht.“Ich habe Angst vor Arnon Grünberg“ schreibt er gleich zu Beginn. Als langjähriger Freund kennt er Grünbergg als höflichen, liebenswerten Menschen. Alle seine Romanfiguren sind höfliche Menschen, aber dahinte lautert der Schrecken, schreibt Kehlmann. Besser kann man den Roman nicht charakterisieren.
Marek van der Jagt ist ein Simplizissimus. Ein einfältiger Knabe, der in der Pubertät auf Jagd nach der „amour fou“ geht. Er will hinter dieses in der Literatur so häufig zitierte Phänomen kommen. Doch mit Schrecken muss er erkennen, dass sein Geschlecht Zwergengröße hat und nicht sehr für die ERkundung der amour fou geeignet ist. Seine Familie gleicht eher einem Zerrbild einer Familie: Den Vater lässt alles um ihn herum kalt, ihn interessieren nur geschäftliche Fusionen. Die schöne und exzentrische Mutter quält alle mit ihren Selbstmorddrohungen. Als Marek sie in die Berge nach Bayrischzell begleiten muss, stößt er sie auf einer Wanderung in den Abgrund. Ohne Gewissensbisse kehrt er im Jahr darauf allein dorthin zurück. „Bayrischzell liegt am Ende der Welt, danach kommt nichts mehr, nur noch Berge und nochmals Berge, und dann, zuletzt, Österreich.“ So endet der frivol-heitere-bedrohliche Roman. Und man wird süchtig nach diesem Autor mit seiner überbordenden Fantasie und seiner herrlichen Respektlosigkeit. Ein Feuerwerk an skurrilen Einfällen, Sprachwitz und irrwitzigen Einfällen regnet da auf den Leser herab.

Zülfü Livaneli, Serenade für Nadja, aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Klett-Cotta

Livaneli zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Türkei. Aus seinen Romanen ist herauszupüren, dass er Filmemacher und Komponist ist. Denn seine Geschichten sind musikalisch und lesen sich wie Drehbücher -so griffig, ergreifend.
Livaneli baut seine Romane nach einem bestimmten Konzept: Immer steckt in einer Geschichte eine andere – die wesentliche, die wichtige, die erst enthüllt werden muss.Ähnlich wie im Roman „Schwarze Liebe, Schwarzes Meer“ erzählt ein alter Mann einer jungen Frau seine Geschichte – er schält aus der Vergangenheit die schrecklichen Ereignisse Scheibe für Scheibe heraus.
Maya, eine junge Türkin, arbeitet an der Universität in Istanbul.Sie bekommt den Auftrag,den betagten Professor Maximilian Wagner,der zu einem Gastvortrag eingeladen wurde, während seines Aufenthaltes zu betreuen. Das erweist sich als schwieriger als angenommen. Der alte Mann hat eigenartige Wünsche, unter anderem bei Eiseskälte an die Küste gefahren zu werden. Dort spielt er auf seiner Geige ein Musikstück. so lange, bis er fast erfriert. Maya rettet ihn vor dem Erfrierungstod, und Maximilian Wagner erzählt ihr die erschütternde Geschichte seiner Frau Nadja, einer deutschen Jüdin. Sie war auf dem bulgarischen Schiff Struma, auf dem über 700 Juden durch eine Explosion ums Leben kamen. Die Explosion war kein Unglück, sondern von England und der Türkei herbei geführt. Man wollte verhindern, dass diese 700 Menschen nach Palästina einreisen.
Wagner kehrt zurück in die Staaten, Maya kündigt an der Universität und beginnt die Geschichte Nadjas und Maximilians aufzuschreiben.
Livaneli ist ein Autor, dem es darum geht, die Verganheit, insbesondere während und nach dem 2. Weltkrieg, aufzudecken. Dabei schont er niemanden, insbesondere nicht die Rolle des türkischen Staates.
Packend erzählt, ohne ins Reißerische abzugleiten.
Silvia Matras empfiehlt diesen Autor!!

Anna Baar, Die Farbe des Granatapfels. Wallstein Verlag

Anna Baar 1973 in Zagreb geboren verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Wien, Kärnten und auf der Insel Brac. In diesem Roman verarbeitet sie ihre eigenen Erinnerungen. Der Roman ist eine subtil-hochpoetische Verarbeitung der Probleme eines jungen Menschen, der zwischen zwei Kulturen – der des „Vaterlandes mit der Vatersprache“ und „der des Mutterlandes mit der Muttersprache“ aufwächst und in keiner der beiden wirklich beheimatet ist.
Das Kind Anna verbringt die Sommer bei ihrer Großmutter Nada auf einer Insel nahe bei Split. Sie liebt die Kargheit des Lebens und der Insel, auf der es wochenlang nicht regnet, sie nur hin und wieder sich waschen darf, Essen nicht weggeworfen wird. Nada ist eine lebensvolle Frau, die das Kind über alles liebt, es vereinnahmt und nur schwer erträgt, wenn es am Ende des Sommers sie verlässt und nach Österreich zurückkehrt.Genau wird die Sprache, ihre grausamen Redewendungen (z.B. „bis zur Vergasung“) ernst genommen. Immer wieder verfällt das Kind in Angstzustände, ausgelöst von der heiß geliebten Nada. Doch je älter das Kind wird, desto mehr löst sie sich von Nada, aber sie bleibt da wie dort, im Vater-Land und im Mutter-Land, ein Zaungast. Als Nada schon gebrechlich ist und im Altersheim in Zagreb wohnt, erzählt sie der nun erwachsenen Anna von den Schrecken des Jugoslawienkrieges, und Anna „stirbt alle Tode mit“. Haus und Garten auf der Insel verwildern und verfallen.
Dieser Roman braucht, manchmal auch verbraucht die Geduld des Lesers. Starke poetische Bilder und minitiös genaue Beobachtungen sind sprachlich überzeugend formuliert, aber in den Wiederholungen ermüdend. Es lohnt jedoch, sich auf dieses Sprachkunstwerk einzulassen, weil vieles, worüber die Autorin reflektiert, vielleicht auch in der Kindheit und Jugend des Lesers selbst noch unbehoben ruht. Im Lesens steigen ähnliche Erinnerungen auf und machen nach-denklich.

Salvatore Settis: Wenn Venedig stirbt. Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte. Aus dem Italienischen: Victoria Lorini. Wagenbach Verlag

Man kennt die Argumente, die Salvatore Settis vorbringt. Aber wenn man sie alle, akribisch und wissenschaftlich und empirisch gut dargelegt, Wort für Wort zu lesen bekommt, dann wundert man sich, warum niemand etwas gegen diesen Ausverkauf Venedigs und anderer Städte tut. Die Politik geht vor dem gierigen Markt in die Knie. Das ist beschämend und macht hoffnungslos. Dass jede historische Stadt eine Seele hat, die sie an Tourismus- und Bauindustrie ungeschaut und ungestraft verkauft, ist eine Tatsache, deren sich zwar Bürgermeister und Konsorten bewusst sind, die ihnen aber herzlichst egal ist. Mit „Seele“ kann man kein Geld verdienen, meinen sie. Und vergessen, dass eine von Touristen und Spekulanten zu Tode gebrachte Stadt eines Tages nichts mehr einbringen wird. Weil inzwischen schon Reproduktionen dem Original die Show gestohlen haben. Mit Schaudern liest man von den „Projekten, Venedig zu retten“, die da sind: ein künstliches Venedig – Art Disneylandvenedig – gleich vor den Toren Venedigs hinzustellen oder gigantische Türme, die den Markusdom weit an Höhe überragen, im letzten noch genützten Ackerland oder auf den Inseln in der Lagune zu bauen. Wer schon einmal erlebt hat, wie so ein Riesenkreuzfahrtschiff fast direkt vor den Markusplatz ankert, der weiß, wovon der Autor warnt. Obwohl jeder Politiker um die Gefahr weiß, die solche Schiffe für Venedig bedeuten, ist noch immer diesem verbrecherischen Business kein Riegel vorgeschoben worden.
Jeder, der Venedig liebt, jeder, der sich über den Ausverkauf der Städte Gedanken macht, sollte dieses Buch lesen. Vor allem sollte es den Politikern, Baulöwen und Architekten als Pflichtlektüre verordnet werden. Es gibt genug Architekten, die tatsächlich fordern, Venedig müsse „modernisiert“ werden, indem man neue Architektur mitten in die Palazzi stellt. Ihnen ist jede Altstadt nur Spielwiese für ihre eigene Verwirklichung.

Ursula Prutsch, Eva Peron. Leben und Sterben einer Legende, eine Biografie. C.H. Beck

Der Historikerin Ursula Prutsch mit Schwerpunkt Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert ist ein kleines Wunder gelungen: Aus dem Dickicht von Mythen, Legenden und privater Erzählungen, Verklärungen und Verdammngen so etwas wie „Wahrheit“ über Eva Peron herauszufiltern. Und das auch noch „sine ira et studio“. Tatsächlich spürt der Leser, dass Ursula Prutsch versucht, der Person Eva Perons gerecht zu werden, ohne eigene mögliche Vorurteile aufkommen zu lassen. Wo sie das Geschehen aus Erzählungen wiedergibt, verwendet sie den Konjunktiv. Wo sie auf Fakten stößt, den Indikativ.
Eva Peron, 1919 geboren als Eva Duarte. verschleiert ihre uneheliche Geburt. In armen Verhältnissen aufgewachsen gelingt es der schönen jungen Frau, im Radio- und Theaterleben Fuß zu wachsen. Sie lernt Juan Peron sehr früh kennen und ist bald eine wichtige politische Kraft an seiner Seite, verhilft ihm zum Wahlsieg. Da sie für die Armen immer ein offenes Herz hatte und unermüdlich sich die Bitten und Klagen aus dem Volk anhörte und sich persönlich um Lösungen der Probleme bemühte, wird sie bald so etwas wie eine Heilige und übertrifft ihren Mann an Beliebtheit. Als sie mit 33 Jahren an Krebs stirbt, stürzt ihr Tod das Land in Unruhen. Eva Perons Leichnam wurde gleich nach dem Tod mumifiziert und einige Male umgebettet. Ein skurriler Streit entsteht um den Besitz der Leiche.
Interessant ist vor allem, wie ursula Prutsch immer wieder auf die Charakteristika des Populismus in der Diktatur Perons hinweist, die Funktionsweisen und Tricks aufdeckt, mit denen das Volk eingelullt wurde. Deshalb ist das Buch auch ein wahres Lehrstück in Sachen Politik, und dazu noch ausgezeichnet geschrieben und gut lesbar.
Im letzten Teil behandelt die Historikerin das Wirken dieser Frau nach ihrem Tod, ihre Mythologisierung in der Literatur und Musik, ihr Fortwirken bis heute in Argentinien. Auch in der ehemaligen, langjährigen Präsidentin Cristina Kirchner, deren Vorbild Eva Peron war. „So kann die Geschichte von Eva Peron auch als Lehrstück für das Handeln von Populisten gelten, heißen sie nun Hugo chavez, Victor Orban, Jean-Marie und Maine Le Pen, Jörg Haider und Sarah Palin.“

Lucy Foley, Die Stunde der Liebenden, übersetzt von Chr. Dormagen und B. Heinrich. Insel Verlag

Dieser erste Roman der Autorin ist zwar noch kein „Pageturner“, aber man darf auf den zweiten gespannt sein, mit dem es ihr vielleicht gelingt, auf die Liste der Bestseller ganz nach oben zu klettern.
Noch hat die Autorin nicht ihren eigenen Weg gefunden, folgt zu sehr den gängigen Romantrends der Gegenwart. So arbeitet sie mit all zu häufigen Zeitensprüngen. Eine Episode ist kaum länger als zehn Seiten, manche nur zwei bis drei.Auch der häufige Perspektivewechsel sorgt für Unruhe. Dadurch kommt die Entwicklung der Personen nicht so recht in die Gänge. Denn einmal sind die Protagonisten jung und haben ein ganz anderes Profil, gleich wieder alt.Einmal befinden wir uns in Paris, dann in Korsika, dann in New York und so weiter.
Es ist die Lebensgeschichte der Engländerin Alice alias Celia und des Malers Tom. Aus der Kinderfreundschaft wird Liebe, die jedoch durch widrige Umstände -Krieg, gesellschaftliche Hürden -sie stammt aus einem reichen Elternhaus, er ist ein armer Schlucker – nie so richtig ausgelebt werden kann. Als sie in ganz jungen Jahren
einmal doch zusammenfinden, wird Alice schwanger. Zum Entsetzen ihrer Eltern. Die Mutter sagt ihr nach der Geburt, das Mädchen sei tot, und gibt es zur Adoption frei. Als Alice diesen Betrug aufdeckt und ihre Tochter kennen lernen möchte, ist es zu spät. Denn diese ist in jungen Jahren gestorben. Aber deren Tochter Kate, also die Enkelin lebt. Und die macht sich auf die Suche nach der ihr bis dahin unbekannten Großmutter Alice. Klingt kompliziert, ist es auch. Kate lernt zunächst Tom kennen, der ein berühmter Maler geworden ist und in Korsika lebt. Von ihm erfährt sie Bruchstücke dieser Liebesgeschichte. Später reist sie zu Alice, die in New York und Paris gut gehende Kunstgalerien betreibt, und erfährt den Rest. Auf dieser Suche durch die Zeiten des Zweiten Weltkrieges bis in das Jahr 1986 breitet die Autorin die Liebesgeschichte aus. Dass sich Alice, als sie knapp vor dem Weltkrieg ihren über alles geliebten Tom wieder findet, doch nicht für ein gemeinsames Leben entscheiden kann, kann die Autorin nicht wirklich gut argumentieren. Wohl deshalb,damit der Roman nicht frühzeitig in einem Happy End endet.
Lucy Foley ist eine begabte Autorin. Mit einer etwas stingenteren Erzählweise könnte sie durchaus in die Fußstapfen von Jojo Moyes treten.

Val McDermid, Der lange Atem der Vergangenheit, übersetzt von Doris Styron. Drömer Verlag

Die bekannte schottische Autorin von Bestsellerromanen liefert mit diesem Kriminalroman einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Jugoslawienkrieges. Anfangs kommt das Geschehen nur mühselig in die Gänge, der Leser muss sich durch verschiedene Geheimdienste, Polizeiorganisationen und andere Gruppierungen in Schottland, England und dem Kosovo drchkämpfen. Ab ca. Seite 130 gewinnt das Geschehen an Fahrt.
Die Geografieprofessorin Maggie Blake verliebt sich während des Bürgerkrieges in Dubrovnic in den intelligenten, allseits bewunderten Geheimdienstgeneral Mitja Petrovic, der aus dem Kosovo stammt.Zu Beginn des Romans wird ein Skelett auf dem Dach einer Schule mit einem Einschussloch im Schädel gefunden. Es stellt sich heraus, dass es dieser vor acht Jahren verschwundene Mitja ist. Nun entwickelt die Atorin, geschickt die grausame Vergangenheit des Jugoslawienkrieges mit der Gegenwart verknüpfend, die Geschichte von Maggie Blake und Mitja Petrovic. Sie führt durch diesen „Dschungel von Macht“, ohne jedoch zu werten oder zu (ver)urteilen. Die Gräuel, die sowohl die Kroaten den Serben und die Serben den kroaten angetan haben, werden geschildert ( vielleicht ein wenig zu ausführlich -bedient da die Autorin einen gewissen Voyeurismus?). Die Tatsache, dass zu viele Täter davongekommen sind und sich so manche – wie ebene auch Mitja – als private Rächer aufspielen, wird ebenso wie die Frage nach Recht und Gerechtigkeit gestellt. Hat der Mensch das Recht, Rache zu üben? Wie effizient arbeiten Gerichte? Die Frage von Opfer und Täter spielt ebenso eine wichtige Rolle. So wird aus der Kriminalstory fast ein Lehrstück über die Aufarbeitung oder eben Nichtaufarbeitung von Kriegsverbrechen und der Schuldfrage.

Drago Jancar, Die Nacht, als ich sie sah. Aus dem Slowenischen übersetzt von Daniela Kocmut und KlausDetlef Olof. Folio Verlag

Der Titel klingt nach Liebesromanze. Der Roman handelt aber nur zum Teil von der Liebe. Im ersten Teil wird die Liebesgeschichte der schönen, verwöhnten Veronika, die in Ljubeljana mit einem Alligator herumspaziert, der aber dann getötet und ausgestopft werden muss, weil er ihren Ehemann in der Badewanne (sic) gebissen hat.
Was da so skurril und fast heiter-ironisch daherkommt, entwickelt sich zu einem der stärksten Romane über die Zeit, als der Zweite Weltkrieg fast schon zu Ende ging und in Slowenien ein wildes Durcheinander an Kämpfern herrschte. Da gab es noch die königstreuen Truppen des Königs Peter, der aber schon im sicheren Exil weilte. Dann die Deutschen, die die Tito-Partisanen und vermeintliche Kommunisten jagten. Dann jagten die Partisanen die Deutschen und meuchelten die so genannten Verräter an der Sache nieder. Keiner konnte mehr dem anderen trauen. So offen über die Situation knapp vor und nach dem Ende des 2. Weltkrieges in Slowenien hat noch kein Schriftsteller geschrieben. Geschickt knüpft er die Handlung rund um die charismatisch-schöne Veronika, Ehefrau des reichen und etwas zwielichtigen Leo Zarnik. Der junge Stivo, ein begeisterter Königstreuer, soll ihr das Reiten beibringen. Schnell werden die beiden ein Paar, sie verlässt ihren Mann und zieht mit Stivo ganz in den Süden, wohin er zur Strafe wegen dieser unstatthaften Beziehung abkommandiert wird. Doch lange bleibt sie nicht. Schlamm, Hunger und tödliche Langeweile lässt sie wieder zu ihrem Mann zurückkehren, der inzwischen eine Burg gekauft hat. Dort halten die beiden nun Hof. Heißt: Trotz Krieg geben sie Feste, laden Gäste ein, darunter auch Deutsche. Ihr Mann untertützt heimlich die Partisanen, hält aber gute Geschäftsbeziehungen zu den Deutschen, was dem Ehepaar letztendlich zum Verhängnis wird: Ein Arbeiter aus dem Dorf, der auch auf der Burg arbeitet und sich in die schöne veronika verliebt hat, denunziert sie aus verletzter Eitelkeit. Die beiden werden grausam gefoltert und Veronika von der ganzen Truppe vergewaltigt, bevor sie stirbt.
Es ist ein Roman, der von dem Leiden berichtet, das alle Menschen, egal zu welcher Schicht, politischen Partei oder Nation sie gehörten, heimsucht, von der Reue über blutige Taten, die aus blinder Wut und Parteigehorsam geschehen sind und nicht wieder gut zu machen sind. Mit einfühlsamer Sprache ohne Künstlichkeit weiß Drago Jancar den Leser in den Bann zu ziehen.
Silvia Matras empfiehlt: D. Jancar, Die Nacht, als ich sie sah.

Saphia Azzeddine, Zorngebete. Wagenbach

Dass Saphia Azzeddine zu den besten Schriftstellerinnen des Maghreb zählt, beweist sie wieder einmal in dem Roman „Zorngebete“. Die Icherzählerin Jbara ist 16 Jahre altund hütet die Schafe in Tafafilt, einem Ort in der Wüste, in dem kaum Fremde vorbeikommen. Sie weiß nichts von der Welt, auch nicht, dass sie schön ist. „Schönheit git es nur in der Sprache der Reichen“.Sie lässt sich von einem Jungen aus der Umgebung hin und wieder „besteigen“, ohne zu ahnen, wozu dieser Geschlechtsakt führt. Als sie schwanger wird, wird sie vom Vater, der ihr wegen seiner Pseudoreligiosität verhasst ist, vertrieben. Mit dem Bus fährt sie in die nächste Stadt, wo sie das Kind auf der Straße ganz allein auf die Welt bringt und es einfach liegen lässt. Als Putzfrau und auch als Nutte bringt sie sich durch, immer im Gespräch mit Allah, an dessen Existenz sie glaubt, aber ganz genau weiß, dass nur sie allein sich helfen kann. Die Frage nach dem richtigen Tun stellt sie ihm immer wieder und gibt sich selbst die Antwort. Eines Tages gelingt es ihr, in einer Villa der Reichen als Dienstmädchen zu arbeiten. Man liest mit großem Vergnügen, wie sie das absurde Benehmen der Bewohner beschreibt. Sie wird von ihnen als Mensch nicht wahr genommen: „Die Reichen sehen uns nicht“, auch nicht, als der Hausherr sie regelmäßig fickt und danach gleich wieder vergisst. „Es ist schrecklich, niemandem in Erinnerung zu bleiben“. Obwohl sie nicht lesen kann,lernt sie bald den „Unterschied zwischen einer Sonnenbrille von Fendi und Versace“ erkennen. Mit dem Wissen um das Tun und Treiben der Reichen wird sie bald zu einer gefeierten Stripperin, dann die Edelnutte eines Scheichs. Sie ist jetzt „Geschäftsfrau und ihr Körper ist ihr Büro“. Das geht so lange gut, bis ihr Scheich wegen Drogenhandels des Landes verwiesen wird und sie ins Gefängnis kommt.Nach der Haft heiratet sie einen „braven Imam“ und hofft auf ein ruhiges Leben. Doch die Schiegermutter will es nicht so und drangsaliert sie ordentlich. Als ihr Mann einen Schlaganfall erleidet, füttert und badet sie ihn und singt ihm, um die Schmerzen zu lindern, Lieder ihrer Kindheit vor. Immer wieder richtet sie ihre Zorngebete an Allah, hadert mit ihm, zweifelt an ihm, fragt nach dem Sinn des Leidens und des Bösen, um am Schluss zu erkennen: „Gut und Böse gibt es nicht. Dafür bist Du viel zu scharfsinnig. Allah, Du bestehst nur aus Zwischentönen und darum liebe ich Dich.“
Ein berührendes Buch ganz ohne Rührseligkeit. Dafür sorgt schon die direkte, oft sehr harte Ausdrucksweise. Azzeddine nimmt sich kein Blatt vor den Mund, nennt die Dinge beim Namen, ohne billig zu werden. Wenn sie den Geschlechtsakt beschreibt, so geschieht das sehr direkt, in groben Ausdrücken, denn genau so erlebt ihn Jbara.“Im Grunde kann ich mich nicht beklagen. Ich verkaufe Sex..was ist schlecht daran?“ fragt sie. Erst als sie so etwas wie Liebe zu ihrem sterbenden Mann empfindet, wird sie mit sich eins.
Saphia Azzeddine hat ein packendes Buch jenseits der gängigen Moralvorstellungen geschrieben. Sie geht hart mit den Lebensführungen der Reichen um, schildert mitleidlos den Lebensweg eines Mädchens, das von den Männern ausgenützt wird und das ihre Schönheit umgekehrt auch nützt, um am Reichtum mitzunaschen. Azzeddines Kritk richtet sich vor allem gegen eine Männerwelt, die unter dem Vorwand religiöser Gesetze Frauen schamlos ausnützen und sie, um sich ihrer ganz sicher zu sein, unter einen Schleier stecken. „Scheiße nochmal, dieser Schleier kotzt mich an.“ Und sie wird ihn ablegen. Zum Zeichen ihrer neuen Freiheit.

Saphia Azzeddine, Mein Vater ist Putzfrau. Übersetzung Birgit Leib. Wagenbach Verlag

Er hilft seinem Vater, diverse Büros, Bibliotheken des Nachts zu putzen. Paul ist zu Beginn des Romans ein kluger, flinker Knirps mit einer haarscharfen Beobachtungsgabe. Schonungslos analysiert er die Blödheiten der Erwachsenen, wie sie sch gockelhaft benehmen und wie wenig Hirn in ihnen ist. Nur seinen Vater und Priscilla findet er klasse. Für beide bemüht er sich. Seinem Vater, dessen Schwäche er liebevoll akzeptiert, hilft er, wo er nur kann. Die Liebe ist gegenseitig. Es ist rührend, wie sehr sich der ungebildete Vater um die Erziehung seines Sohnes kümmert. „Du sollst nicht so werden wie ich“, sagt er immer wieder. Das tut Paul weh. Weil er den Vater nicht enttäuschen will, lernt er, bringt es sogar bis zum Abitur. (Allerdings ein wenig erschwindelt – mit einer köstlichen Komödie vor der Mathematiklehrerin). Es ist pures Vergnügen, Paul bis zm Erwachsensein zu verfolgen. Er bekommt – natürlich – seine Priscilla nicht.  Er wird Steward. Als er seinem Sohn diesen Beruf erklärt, fasst dieser zusammen: „Also, du putzt, nur eben in der Luft.“

Einer der berührendsten Romane über eine Jugend am Rande von Paris, ehrlich, witzig, frech! Einfach liebenswert!!

Elisabeth – Joe Harriet, Die unveollendete Geliebte/ Olga Waissnix & Arthur Schnitzler, Amalthea 2015

Hier wird Seelenstriptease auf höchstem Niveau betrieben. Die Autorin hat das Verhältnis der beiden Protagonisten akribisch durchleuchtet. Der Leser fühlt sich fast als Voyeur, wenn er der Liebesgeschichte, die sich im Lauf der Jahre in eine schöne Freundschaft klärte, in Briefen und Tagebucheintragungen folgt. Olga Waissnix ist die „schöne Wirtin“ vom Thalhof in Reichenau. Sie ist nicht nur schön, sondern auch intelligent und gebildet, vom Adel und der Wiener Gesellschaft, die im Thalhof Urlaub machen, umschwärmt. Schnitzler und sie lernen einander in Meran kennen und verlieben sich heftig ineinander. Aber Olga wird nicht seine Geliebte, weil sie den Skandal fürchtet. Ihr eifersüchtiger Ehemann Karl und ihr Vater Ludwig Schneider „überwachen“ mit Argusaugen ihre Tugend. In den Briefen, die zwischen den beiden regelmäßig gewechselt werden, kann man diese schwierige Liebe nachvollziehen. Im Mittelteil des Buches, als sich Schnitzler zahlreichen anderen Frauen zuwendet, wird es mühselig zu lesen. Da wird das Wort „Liebe“ in allen Varianten zu Tode geredet, sehr oft im Klischee erstickt. Schnitzler entpuppt sich als berechnender Egoist, Olga als unentschlossene Nicht-Geliebte.

Interessant wird es wieder, als beide sich für die Freundschaft entschließen und die Diskussionen um das Thema Liebe abflauen. Olga wird die erste und ausadauernde Bewunderin Schnitzlers als Schriftsteller. Als sie schwer an Bauchfellentzündung erkrankt, wird das Verhältnis beider inniger und ehrlicher. Auch wenn sie sich nur selten sehen. Olgas Briefe sprechen von den Schmerzen, die sie 6 Jahre hindurch ertragen muss. In dieser Zeit wird sie die gr0ße Versteherin eines schwierigen Dichters. Sie brauchen einander, um über die Trostlosigkeit des Lebens hinweg zu kommen. Olga stirbt mit 35 Jahren an einer missglückten Operation.

Das Buch ist für alle eingefleischten „Reichenauer“, die Sommer für Sommer nach Reichenau zu den Festspielen und zu Helga Davids Aufführungen pilgern, besonders interessant. Es ist eine Zeitreise in eine Vergangenheit, als dieser Ort noch kultureller und gesellschaftlicher Knotenpunkt war.

Wie ging es weiter mit dem „Thalhof“?

Nach  Olga Wasisnix´s  Tod ging es mit dem Thalhof bergab. In den letzten 16 Jahren wurde ein Teil des ziemlich herabgekommenen Hotels von Helga David als Theaterstätte erfolgreich bespielt. Die neuen Besitzer Ursula und Josef Rath haben den Vertrag mit ihr leider gekündigt. Es heißt, derThalhof wird total renoviert und soll wieder als Theaterstätte fungieren.

Michel Houellebecq, Unterwerfung, Dumont

Die gute Kritik zuerst: Der Plot ist genial, ein Kandidat aus der Bruderschaft der Muslime übernimmt 2021/22 die Herrschaft in Frankreich, und schleichend verändert sich das Stadtbild von Paris, Frauen verschwinden aus führenden Positionen und werden zurück an Heim und Herd beordert. Kritiker, Professoren der diversen Universitäten lassen sich durch weit höhere Gehälter, als sie bisher hatten, kaufen.  Francois, ein Professor für Literatur an der Uni Sorbonne, ist der Protagonist, der all diese Veränderungen registriert. Auch er wird angeworben – und nun der zweite geniale Einfall des Autors: Die letzten 4 Seiten, als es um die Entscheidung geht, ob Francois zum Islam übertreten wird und sich kaufen lässt, ein wahnsinnig hohes Gehalt für eigentlich keine Aufgabe annehmen wird – schreibt Houellebecq alles im Konjunktiv! Ein Hoch auf diese Idee! (ich liebe den Konjunktiv in der Literatur, der meines Wissens zum letzten Mal so genial von Michael Kehlmann in der Vermessung der Welt angewendet wurde). Er führt daher alle Leser, die auf Spannung aus sind – „wie geht das weiter, wie gehts aus“ – an der Nase herum!! Nichts ist entschieden, alles ist offen.

So, das war es schon von meiner Seite mit den Positiva. Ich gebe zu, ich mag einen Roman nicht, der schon mit so viel Lobeshymnen von den Medien eingedeckt wurde, dass der Leser sich schämt zuzugeben, ihm gefällt das Ganze überhaupt nicht. Also – ich gestehe es. Denn die gute Story ist durch ellenlange Abhandlungen über den spätromantischen französischen Schriftsteller Huysmans, über andere Schriftsteller und Philosophen, die man heute kaum mehr kennt – ich zumindest nicht und musste daher dauernd im Internet surfen, um zu lesen, dass der Gesuchte kaum von Bedeutung ist – also – um den Faden aufzunehmen, die gute Story ist durch die literarischen Exkurse über unbekannte Schriftstellerwelten und  Meinungen diverser Literaturhistoriker kaputtgeschrieben. Mühevoll bemüht sich Houellebecq  um existentielle Zusammenhänge, indem er Francois auf den Spuren von Huysmans an christliche Orte schickt, um herauszufinden, ob er im Christentum  Halt finden könnte. Denn durch die islamische Neuorientierung im Lande  und die Kündigung an der Universität ist dem armen Francois der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Vor allem ist ihm sein sexuelles Jagdrevier verloren gegangen, wodurch er sich bisher in seinem Mannsein bestätigt sah. Keine willigen Studentinnen mehr – kein Sex mehr. Auch die Freundin hat sich nach Israel abgesetzt. Deshalb der halbherzige Versuch, es zuerst mit dem Christentum zu probieren, was ihm nicht gelingen will und dann mit dem Islam, der zumindest ein Leben im Luxus garantieren würde. Aber eben nur „würde“ – die Entscheidung bleibt offen. Dafür danke ich dem Autor! Vielleicht auch noch für einige ironische Einschübe, die das Lesen erträglich machen.

Die Meinungen in der Leserunde: Es gab hymnische Beurteilungen, wie: Das wichtigste Buch über unsere von Gewalt und IS bedrohten Zeit (diese Seite des Islam spricht Houellebecq allerdings überhaupt nicht an, ja er scheint sie sogar tunlichst zu meiden). Viele aus der Runde meinten, dass die ersten 40, 50 Seiten sehr mühselig zu lesen waren (besagte Abhandlungen über Literatur und Philosophie), waren aber grundsätzlich von dem Buch angetan, weil der Autor seinen Protagonisten auf Sinnsuche schickt. Es fiel auch die Kritik, dass die Probleme, die sich in einer islamischen Regierung ergeben können,  zu banal dargestellt sind.

Meine zusammenfassende persönliche Meinung: Houellebecq zeigt eher eine gemütliche Unterwerfung unter den Islam auf. Vergleicht man den Titel „Unterwerfung“ mit dem Film „Submission“ (Unterwerfung) von Theo van Gogh, so fällt erst recht die Verharmlosung auf: Denn Theo van Gogh berichtet über die Unterwerfung von Frauen in der islamischen Welt, die zwangsverheiratet, vergewaltigt und geschlagen werden. Er musste seinen Mut ja bekanntlich mit dem Leben bezahlen. Das wollte Houellebecq ganz eindeutig nicht riskieren.

Die Frage nach dem Cover : einige meinten – es sei ein Symbol für die verschleierte Frau, andere sahen in dem Vogelgesicht das wachsame Auge des Geheimdienstes oder des Präsidenten. Auf alle wirkte der schwarze Vogel bedrohlich. Der Zusammenhang mit dem Werk bleibt offen.

 

Corrado Augias, Die Geheimnisse Italiens. Roman einer Nation. C.H.Beckverlag

Italiens Städte werden von einer innerliterarischen Seite durchleuchtet. Augias stöbert in den Werken der Literaten, in Briefen, in Büchern von Philosophen und entwirft zwar kein neues Bild auf Städte wie Rom, Palermo, Neapel, Mailand oder Venedig, aber doch gelingen ihm unübliche Blickwinkel. So weiß man zum Beispiel, dass Palermo ein kultureller Schmelztiegel aus Abendland, Islam und der griech.-byzantisnischen Welt ist, aber dass die Stadt vom Todesgedanken – inklusive Mafia – beherrscht wurde und wird, ist vielleicht nicht allen bekannt. Die Gesellschaft Roms stellt er als eitel, geschwätzig und oberflächlich dar. Interessant ist die Momentaufnahme Neapels aus den letzten Tagen der deutschen Besetzung. Da bewiesen die Bewohner Mut zum Widerstand, und zwar alle – vom Adeligen bis zum Straßenjungen. Doch dieses Aufflackern eines Stolzes verkam zu einem schäbigen Anpassen an die Befreier. Mailand wiederum definiert der Autor über die Geburt des Regietheaters unter Strehler. Mit den politisch brisanten Brechtaufführungen setzte Strehler wichtige gesellschaftliche Zeichen, die heute leider keine Wiederholung finden.

„Die Wahrheit über Italien“ oder die Geheimnisse Italiens hat auch Augias nicht ans Tageslicht bringen können. Denn wo liegt die Wahrheit einer Stadt oder gar einer Nation?? Das sind zu hoch und zugleich zu vage gesteckte Ziele. Aber für alle Italieninteressierte ist dieses Buch eine Bereicherung. Denn der Autor scheut sich nicht vor harter Kritik, die er zwar meist anderen – Literaten, Theater- oder Staatsmännern – in den Mund legt. Kritk dem eigenen Land gegenüber ist allemal besser als eitle Nabelschau.

Margret Greiner, Auf Freiheit zugeschnitten. Emilie Flöge, Verlag Kremayr&Scheriau

Endlich eine Romanbiografie, die sowohl den Namen „Roman“ als auch „Biografie“ verdient. Was weiß man schon über Emilie Flöge? -„Ach ja, das war doch die Geliebte Gustav Klimts“ oder „Gustav Klimt hat sie doch ein paar Mal gemalt“ – mehr kommt da nicht. Darum war es wichtig, dieses Buch über diese interassante Frau zu schreiben und zwar nicht nur als „Beigabe“ zu Klimt, nicht nur in der Konnotation mit Klimt. Denn Emilie Flöge war für ihre Zeit – und wahrscheinlich auch noch für heutige Zeiten – eine fortschrittliche, selbständige Frau. Sie führte ihren eigenen Modesalon zu einer Zeit, als man von Coco Chanel noch nichts wusste. Sie entwarf Mode, um die Frauen aus dem Korsett und den Zwängen des pompösen Kleiderwahns zu befreien. Ihre Entwürfe entstanden in Konkordanz mit den Wiener Werkstätten.

Als Lebensbegleiterin von Gustav Klimt hatte sie sich früh entschlossen, aus dem Kampf um die erotische Vormachtstellung in seiner Gunst auszusteigen,  alle Amouren ohne Kommentar hinzunehmen und ihm „die Frau an seiner Seite“ im öffentlichen und privaten Leben zu sein, ohne jede sexuelle Beziehung. Diese Haltung fiel ihr nicht immer leicht, aber es war für das Paar der einzig mögliche Weg der gegenseitigen Akzeptanz.

Margret Greiner gelingt es in einer unaufgeregten Sprache mit viel Feingefühl, die Figur Flöges lebendig werden zu lassen. Der Leser weiß immer, wo die Romanfiktion beginnt und wo andrerseits die Recherchen sich auf gesichertem Terrain befinden. In inneren Monologen, Dialogen und Reflexionen führt sie uns an den Charakter dieser interessanten Frau heran, und zwar so nahe, wie es ein Roman erlaubt und so distanziert, wie es eine Biografie verlangt.

Unbedingt lesen!

Mauro Corona, Im Tal des Vajont, Graf Verlag

Eine bedrückend-intensive Geschichte über das harte Leben der Menschen im abgelegenen Bergtal zwischen Friaul und Veneto. Im Dorf Erto spielen sich Natur- und Menschentragödien ab mit der Wucht griechischer Dramen. Die Sprache ist wie geschliffener Marmor. Hart. Eindrucksvoll

Evjenia Fakimu, Aretha und die Frauen des Kleanthes

Eine zu tiefst berührende, fein gesponne Geschichte aus Griechenland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Mädchen Aretha, das beim geringsten Schock in tagelangen Tiefschlaf verfällt, wird von den besorgten Tanten in eine immer enger werdende Welt gezwungen, um die Gefahren von ihr abzuhalten. Bis ihr nur mehr das Zimmer im 1. Stock des Hauses bleibt. Trost ist ihr die Liebe zu dem Jungen Andreas. …Wer je Griechenlands Wurzeln erahnt oder erlebt hat – eine Ahnung bekommt man ja hie und da auch heute noch – der muss dieses Buch lesen.