John Hopkins, Diese Geschichte von Ihnen. Akademietheater

Nikolaus Ofczarek in seiner Lieblingsrolle als Berserker! ER darf sich Austoben. Drei Stunden schlägt, quält er sich selbst, seine Ehefrau, seinen Vorgesetzten und das Opfer, schleudert sich und andere quer über die Bühne, dass man um die Knochen der Schauspieler bangt. Nicht alle haben diese heftige Schlagorgie ausgehalten und gingen in der Pause. Die blieben, dankten den Schauspielern für ihre Leistung, vor allem für den körperlichen Einsatz.
Als Polizist mit 20 Dienstjahren am Buckel hat Johnson (Ofczarek) schon viel Grausames gesehen. Dass jetzt aber ein Mädchenschänder sein bestialisches Unwesen treibt, führt ihn an den Rand des Wahnsinns. Er meint, in Baxter (August Diehl) den Täter gefunden zu haben und quält ihn zu Tode, ohne wirklich zu wissen, ob er der Täter war.
Zu Beginn taumelt Johnson betrunken durch seine Wohnung, schlägt Möbel und Ehefrau (Andrea Clausen) kurz und klein.
Dazwischen wimmert er um Verständnis und Hilfe, die Bilder in seinem Kopf quälen ihn so. Man ahnt schon: Hier agiert der eigentliche Täter, der sich aber als Opfer sieht. Recht unglaubwürdig die Szene, in der die Ehefrau Maureen ihm immer wieder ihre Hilfe anbietet, just nachdem er sie grausam durch das Zimmer geschleudert hatte.
Im 2. Akt muss Johnson seinem Vorgesetzten (Roland Koch) Rede und Antwort über den Vorfall stehen. Wie kam es dazu, dass er Baxter zu Tode geprügelt hat? Hier wirkt das Stück langatmig, denn wie im 1. Akt fleht Johnson um Hilfe, kann nicht reden. Der Akt endet – wie man schon ahnt – gewalttätig.
Im 3. Akt findet der eigentlich spannendste Teil des Dramas als Rückblende statt: Der Zweikampf zwischen Johnson und Baxter – ganz großartig gespielt von August Diehl. Der gibt sich zuerst arrogant, droht mit seinem Anwalt. Johnson spielt „lieben Polizisten“, will ihn auf die sanfte Tour zum Geständnis bringen. Doch Baxter ist nicht so leicht weich zu bekommen. Auch nicht, als die ersten Schläge fallen. Mitten in diesem Kampf dreht sich das Geschehen um 180 Grad: Aus dem Verhörer wird ein Verhörter. Geschickt gelingt es Baxter, all die wüsten Vorstellungen von Gewalt und Sexualität, die in Johnson stecken, herauszuholen. Bis Johnson all die Gewalt, die in ihm lauert, frei lässt und Baxter erschlägt.
Ofczarek gelingt es mit dieser Rolle, Parallelen zu den Schergen der KZs wach zu rufen. Nicht umsonst trägt er ein entsetzlich braun-orangfarbenes Hemd, und seine an die Schläfen angeklatschten Haare erinnern ebenfalls an Köpfe der Nazizeit.
Was Hopkins mit diesem Drama bezwecken wollte, ist ambivalent: Einerseits plädiert er um Verständnis für Johnson. So gewalttätig, wie er ist, ist er durch den Beruf geworden, in dem er nur mit Mord, Grausamkeit konfrontiert war. Er hat für die Gesellschaft die Drecksarbeit machen müssen, Leichen aus dem Wasser fischen, vergewaltigte Mädchen im Park finden..All diese Bilder blieben in seiner Seele und haben Schaden angerichtet.
Andrerseits ist dieser Johnson aber an sich ein gewaltbereiter Mensch, der sich aus diesem Hang heraus zur Polizei gemeldet hat.Hopkins rührt mit dem Drama an einem der gravierendsten Probleme in den Staaten und nicht nur dort: Wie gewaltbereit ist oder wird ein Mensch, der um sich nur Gewalt erlebt?

Schlussbemerkung: Alle Schauspieler müssen rauchen, und zwar ziemlich heftig! Das scheint an vielen Bühnen Mode zu sein. Die Schauspieler rauchen, die Zuschauer husten! Gar nicht angenehm!

Henrik Ibsen: John Gabriel Borkman. Akademietheater

Mir war, als wäre ich zwei Personen. Eine, die sieht, was sie sieht – und findet das Dargestellte witzig bis skurril. Wenn sich die handelnden Personen aus der dicken Schneedecke – es schneit die ganzen zwei Stunden durch – herauswühlen, wenn Birgit Minichmayer als Gunhild Borkman mit ihrer brüchig-rauchigen Stimme eine Dauerbetrunkene spielt, die raucht wie ein Schlot, säuft wie ein Einser und brüllt wie ein Waschweib. Wenn die erste halbe Stunde über Internet und Facebook hergezogen wird. Das alles ist witzig. Und man kapiert: Aha, der Regisseur Simon Stone hat den Ibsen in die Jetztzeit transportiert. Eh klar, die Finanzkrisen von heute funktionieren damals wie heute nach demselben System: Einer verzockt das Geld,das ihm gar nicht gehört. So weit – so schlüssig. Dann ist da die andere Zuseherin in mir. Die auf die Tragik des Stückes wartet. Darauf, dass alle Familienmitglieder – außer dem Sohn Erhart, gut gespielt von Max Rothbart – an ihren Lebenslügen ersticken: Gunhild, die ihre Hoffnung auf den Sohn setzt. Borkman (gut gebrüllt von Martin Wuttke), der seine Schuld als Banker nicht einsehen kann und nach der Gefängnisstrafe wieder ganz groß herauskommen will, und Ella Rentheim, die Zwillingsschwester von Gunhild, die ebenso auf Erhart hofft. Er soll ihr die noch zu verbleibenden Lebensmonate erleichtern. Die Tragik des Scheiterns und der Hoffnungslosigkeit bringt Caroline Peters in dieser Rolle – als einzige – wirklich auf die Bühne. Während alle brüllen und sich gegenseitig Scheißkerle nennen, steht sie stumm daneben und kapiert, dass sie auf Erhart nicht zählen kann. Dieses stumme Einsehen ist weit berührender als der brüllende Hass der beiden Eheleute.
Vielleicht sind Zuschauer, die dieses Stück vorher nicht kannten, von der Inszenierung und Neubearbeitung – so sie diese als solche wahrnehmen – begeistert. Und vielleicht stand mir im Wege, dass ich glaube, dass Ibsens Figuren eher an ihren eigenen Lebenslügen scheitern und tragisch enden, als dass sie sich in Hasstiraden anschreien. Ibsen arbeitete um vieles subtiler als Simon Stone.
Was mir noch auffiel: IN vielen Inszenierungen an der Burg und an der Akademie rauchen die Darsteller wie süchtig. (Wassa, Borkman, Drei Schwestern) Für das Publikum – und wahrscheinlich auch für die Schauspieler – eher unangenehm, denn der Rauch zieht sich bis weit hinein in den Zuschauerraum. Gehuste ist unausbleiblich.

„6 Österreicher unter den ersten 5“ im Theater im Rabenhof

„Wie oft hast du das schon gespielt?“ frage ich Nikolaus Habjan nach der Vorstellung. ER sieht seine Partnerin Manuela Linshalm fragend an: 50 Mal ? Sie nickt. Trotzdem wirkt das Stück, als wäre gerade Première. Die drei auf der Bühne – Habjan und Linshalm als Puppenspieler und Richard Schmetterer als Dirk Stermann – suhlen sich so richtig im tiefsten Wienerisch. Schmetterer ist der Deutsche, der nicht am Wienerischen verzweifelt, sich mit Taxifahrern, Würstelstandfrauen und Huren einlässt, versucht sie zu verstehen oder sogar in ihrer Sprache zu sprechen. Das muss unweigerlich herrlich schief gehen. Denn die Wiener Typen würden nicht zulassen, dass der Piefke sich an ihrer so einmaligen Fäkaliensprache beteiligen darf. Denn Wiener zu sein, Wienerisch zu sprechen ist ein Privileg. Die köstlichsten Szenen spielen sich vor dem Würstelstand ab, wenn der Piefke die Feinbetonung und Färbung des Urwieners lernen möchte. Hochstilisiert und fein-kafkaesk ist die Beamtenszene. Da geht das Spiel in schräge Feinheiten über, verlässt die Schenkelklopferaktionen, wie etwa die des furzenden Taxilenkers eine ist. Das war um eine Spur zu lang, doch dem Publikum gefiel`s und es jaulte vor Freude bei jedem Furz auf. Dass der Wiener hier in seiner hypertrophen Haltung „Wir san wir und nach uns kommt lang niemand“ voll auf die Schaufel genommen wird, ist so manchem vielleicht nicht so klar gewesen.
Ein ganz besonderer Reiz liegt natürlich darin, dass es Puppen sind, die sich die ärgsten Schimpfworte mit Genuss an ihre hässlichen Köpfe werfen. Die Puppen (toll gebaut von Lisa Zingerle und Nikolaus Habjan) sind die Barriere, die das Stück vor der Peinlichkeit schützen. Puppen dürfen alles, auch das grausliche Lied auf den „Grüpl“ (= Krüppel) singen, der hilflos im Rollstuhl sitzt und vergeblich auf Hilfe wartet. Das Publikum klatscht und singt eifrig mit.Gruselig.

Der eingebildete Kranke im Burgtheater

Zuckerlbarock, Streetdance-Akrobatik, Sprachverrenkungen und alle nur erdenklich geistigen Verrenkungen schleudert der Regisseur Herbert Fritsch in dieser Inszenierung vor die Ohren und Augen des staunenden und amüsierten Publikums. Bekannt als Workaholiker und im Werk Molières mit Inszenierungen des Tartuffe, Schule der Frauen und des Geizigen gut eingearbeitet, bietet er in dieser Burgtheaterinszenierung alles auf, was er so in seiner Theaterkiste hat: Slapstick, absurdes Theater, Klamauk auf höchstem Niveau, hervorragend unterstützt von der Kostümbildnerin Victoria Behr. Da springen und tanzen die Figuren in bonbonartigen Barockkostümen mit hohen Perücken durch die Gegend, die Ärzteschaft in gummiartigen Mänteln mit vampirlangen Fingernägeln und Argan, der eingebildete Kranke, in einer Art Ganzkörperunterhose mit Schnellfeueröffnung am Hinterteil, um für Klistiere allzeit bereit zu sein.
Die Geschichte ist bekannt: Argan zahlt Unsummen für Arzneien und unnötige Behandlungen der Ärzte, will seine Tochter mit einem Dummkopf von Arzt verheiraten. Sie aber ist in einen armen Musikanten verliebt, den sie durch die kluge Intrige das Dienstmädchens Toinette am Schluss doch bekommt. Der Abend steht und fällt mit den Schauspielern, und die leisten Enormes, noch nie auf der Burg so schon einmal gesehen!! Allen voran Joachim Meyerhoff als Argan – er ist in seinem Element, darf extemporieren, was das Zeug hält. Seine gut fünf Minuten andauernde stumme Performance mit dem Cembalo verdient einen Extrapreis.Mit voller Lust an Selbstaufgabe wirft er sich in die Rolle des dummen, eitlen, eingebildeten Kranken. Was für ein Schluss: als er stolz den Ärztemantel anzieht, an die Rampe tritt und eine lange Zeit stumm ins Publikum forscht und dann mit den Worten endet: Lassen Sie mich bitte durch, ich bin Arzt! Tosender Applaus.
Seine Gegenspielerin ist die gewitzte Toinette, gespielt, gehüpft und geturnt von dem grandiosen Markus Meyer, der für die verletzte Caroline Peters kurzfristig „einsprang“ – und das ist wörtlich zu nehmen. Man kennt ja Markus Meyers körperliche Wendigkeit aus anderen Inszenierungen, aber hier übertrifft er sich selbst. Großartig auch Marie-Luise Stockinger als die liebestolle Tochter Argans. Wenn sie sich während der Aufführung ein Schütteltrauma zuzieht, wäre das kein Wunder. Willenlos wie eine ausrangierte Gliederpuppe wird sie herumgeworfen, gewirbelt, wird auf ihr herumgestiegen. – Ein Frauenbild aus dieser Zeit – und sicher auch noch der Gegenwart. Köstlich auch Dorothee Hartingerals intrigante Stiefmutter Bélinde. Die Schar der Ärzte ist durch und durch der Lächerlichkeit preisgegeben.
Langer Applaus und viele Bravos!

Werner Schwab, Die Präsidentinnen. Akademietheater

Trashverliebt, grauslich, punkig, fäkaliensprühend, jedem Bürgersinn für Anstand zuwider spielend..Ja, das alles ist dieses fantastische Stück von Werner Schwab. Viele Besucher verlassen fluchtartig das Theater. ABER: BITTE BLEIBEN, JEDEN ANSTAND VERGESSEN UND ÜBER DIE VERFLUCHT EINSAMEN PRÄSIDENTINNEN LACHEN!
Ja, man kann herzlich lachen, obwohl das Schicksal der drei Frauen zutiefst traurig ist.
Was die drei Schauspielrinnen unter der exzellenten Regie von David Bösch leisten, ist unfassbar komisch und tragisch zugleich:Regina Fritsch mit einer von Motten zerfressenen Pelzhaube, ist bigott, geizig und sparsam, so sparsam, dass der Tag, an dem sie besagte Haube und einen kaputten Fernseher im Müll fand, für sie ein Festtag wurde. Sie vegetiert von einer Mindestrente, träumt von Enkelkindern, die ihr der „verkehrsscheue“ Sohn Hermann sicher nie schenken wird. Ihre Wohnung ist ein einziger Müllhaufen. Dorthin lädt sie die zwei anderen „Präsidentinnen“ ein: Die etwas besser gestellte Pensionistin Grete (Barbara Petritsch),über und über mit Talmi und zerrissenen Spitzen behängt, und das arme Mariedl (Stefanie Dvorak) in dreckiger rosa Unterwäsche, das sich ihren Unterhalt als Kloputzerin verdient, die es „auch ohne macht“, nämlich die verstopfte Klomuschel auch ohne Gummihandschuhe reinigt. Wer von den drei Frauen die ärmste, elendste und traurigste Figur ist, kann man nicht sagen. Wie die drei nun diese Elendshäuflein spielen, ist einfach hinreißend. Man kann herzlich lachen, auch wenn einem manchmal zum Heulen zumute ist.
In ihrer Trostosigkeit träumen sich die drei in ein imaginäres Fest hinein – und da entsteht nun wirklich dichtes, berührendes, tragisches Theater: Grete träumt von einem „echten Kerl“, der ihr auf dem Tanzboden den Heiratsantrag macht, Erna vom Fleischhauer Wottila, der ihr auf dem Fest ebenfalls Avancen macht, und das Mariedl von ihrem triumphalen Erfolg beim Ausräumen der Aborte.Besonders geehrt fühlt sie sich durch die Dose Gulyasch, das Bier und das Parfum, das ihr der Pfarrer als Belohnung am Grund der Aborte versteckt hat. Das Fest endet mit der traurigen Erkenntnis, dass alles nicht so ist, wie geträumt. Nur Mariedl steigt in ungeahnte Höhen auf, von wo aus sie hellsichtig auf die Niedertracht der Menschen blickt.
Silvia Matras empfiehlt dieses Stück. Und auch das Programmheft, das viel über den Autor aussagt.

Giselle rouge in der Volksoper Wien

Es war ein Fest für alle Sinne – ein Rausch. Ich wünschte am Ende der Vorstellung, dass alles noch einmal beginnt. Ich gebe ja gerne zu, dass ich ein Fan des narrativen Balletts bin und habe das an dieser Stelle auch schon einige Male betont. Vor allem bin ich ein Fan von Boris Eifman, dem wir ja schon so herrliche Ballettabende verdanken wie Anna Karenina und Carmina Burana. Was er diesmal auf die Beine und die Bühne gestellt hat, übertrifft alles:

Es wird die Lebensgeschichte der russischen Ballerina Olga Alexandrowna Spessiwzewa (1895-1991) erzählt. Ihre Schicksalsrolle war die Giselle, die sie in Russland, später in Paris, New York und Buenos Aires tanzte. Ähnlich wie Giselle verfällt auch Spessiwzewa einer Wahnvorstellung, die dazu führt, dass sie viele Jahre in der Psychiatrie verbringt.

Zu Musikstücken von Tschikowski, Schnittke und Bizet lässt Eifman das Schicksal dieser Tänzerin aufrollen. Olga tanzt zur Zeit der Russsichen Revolution am Marinski Theater in Moskau und ist bereits eine gefeierte Ballerina, von ihrem Lehrer geliebt und gefördert. Ein Kommissar der neuen Zeit macht die Ballerina zu seiner Geliebten. Sie ist zwar von seiner erotischen Macht angezogen, kann sich aber mit der Brutalität der Revolution nicht anfreunden. Er lässt sie nach Paris ausreisen, wo sie sich in den Partner, der im Ballett Giselle den Prinzen tanzt, verliebt. Er verstößt sie jedoch, weil er sich mehr zu einem jungen Balletteleven hingezogen fühlt. Sie fällt während einer Vorstellung in einen Wahn, aus dem sie nicht mehr erwacht. Ihr Leben endet hinter der Glaswand der Psychiatrie.

Ein Stoff, der alles für ein aufwühlendes Ballett hat: Leidenschaft, Kampf, Leiden, Liebe, die Macht der Masse.

Eifmans Choregrafie und das Bühnenbild+ Kostüme von Wiacheslav Okunev sorgen für Atmenlosigkeit im Publikum. Und natürlich die Tänzer: An einem Abend tanzten Ketevan Papava als Ballerina  und Vladimir Shishov als Kommissar einen  faszinierenden Eroberungs- bzw. Unterwerfungskampf. Sie erinnerte mich an Margot Fonteyn, sicher, grandios in ihren Bewegungen. Shishov – ein „Kerl“ von einem Mann, Furcht und Bewunderung einflößend. Sein herrisch-erotischer Tanz mit Papava geht wohl in die Geschichte des Balletts ein. Am zweiten Abend tanzten diese Rollen Olga Esina und Kirill Kourlaev – technisch perfekt, aber mir fehlte der Funke zwischen den beiden.  Kourlaev ist ja für seine enorme Sprungkraft bekannt, mit der er auch an diesem Abend brillierte. Olga Esina tanzte im 2. akt sehr berührend die verwirrte, dem Liebeswahn verfallende Giselle.  Eno Peci als Lehrer in Moskau und Roman Lazik als Partner in Paris waren ebenfalls  sehr überzeugend.

Beeindruckend auch das Corps de ballet als revoltierende Masse und im 2. Akt als Besucher einer Tanzpaar in Paris. Der Charleston hatte Pfeffer!

Auf ein Wiedersehen müssen wir bis Februar 2016 warte. (21.2  und  1.3. und 10 3. und 14.3. 2016)

Angelin Preljocajs B allett „Snow White“ (Schneewittchen) im Festspielhaus St. Pölten

Ich bekenne mich zum narrativen Ballett! Und daher war meine Begeisterung groß! Dieses Ballett ist einfach wunderbar. Wunder – bar, voller Wunder mit Mut zu Emotionen.

Aber nun in Details: Mit dem Vorteil dass dieses Märchen allen bekannt ist, kann sich Preljocaj alle nur erdenklichen Fantasien, Erotik, Traumvisionen und verrückte Einfälle erlauben: „Als ich die 7 Zwerge als Bergarbeiter über eine Felswand herunterpurzeln ließ, meinten alle: Du bist verrückt!“  sagte er mit liebenswürdigem Selbsthumor. Und das ist er -herrlich verrückt, man folgt seinen Einfällen mit offenem Mund und klopfendem Herzen. Das Märchen entwickelt sich auf mehreren Ebenen: Da ist einmal die Geschichte selbst, dann die Choreografie, dann die Musik -meist aus Mahlers Symphonien – dann das intensive Bühnenbild mit der wunderbaren Lichtregie und nicht zuletzt die Kostüme von Jean Paul Gaultier. Das Enfant Terrible in der Mode hat hier sich alle Fantasien geleistet: Schneewittchen im schlichten weißen Wickelschal, der zwischen den Beinen durchgezogen ist und reichliche Einblicke gewährt, die Stiefmutter in einem martialisch-aggressiven Kriegerkostüm als Bösartige, die mit Zärtlichkeit und Erotik Schneewittchen tötet. Eine Szene wird mir wohl viele Jahre im Gedächtnis bleiben: Die Stiefmutter schwebt als schwarzer Racheengel von oben auf das auf dem Boden liegendes Schneewittchen. Der Tötungsakt ist hocherotisch-mystisch, fast tief religiös. So könnte ich jede einzelne Szene hervorheben! Vor allem staunte ich über die tänzerische Hochleistung des ganzen Ensembles!

Schade, dass das Schneewittchen uns schon wieder am Sonntag 22. März verlässt!!

Großartig: „Die sieben Todsünden“ im Volkstheater

Ein Abend mit Maria Bill, wie man sie liebt und kennt: Tolle Sängerin und berührende Schauspielerin. Unter der sensiblen Regie ihres Exmannes Michael Schottenberg führt uns Maria Bill durch einen Brecht-Weill – Abend wie man ihn schon lange nicht mehr erlebt hat: Dicht, packend und nachdenklich machend.

Im ersten Teil singt Maria Bill neun Lieder nach der Musik von Kurt Weill, unter anderem „Die Seeräuber Jenny“ oder die „Zuhälterballade“ aus der Dreigroschenoper, aber auch das zu einem Jazzstandard gewordene „Youkali“ von Kurt WEill. Sie steht, geschminkt wie eine Diva aus den 30er Jahren in einem engen schwarzen Kleid mit weißer Riesenboa, kerzengerade und riesig groß (auf unsichtbaren Stelzen.) Danach verwandelt sie sich übergangslos in Anna, zieht das schwarze Kleid aus, darunter trägt sie ein armseliges Mädchenkleid. In ausgetretenen Schnürschuhen und mit einem alten Koffer wird sie von ihrer habgierigen Familie (Eltern und 2 Brüder) -hinreißend gesungen und choreografisch im minimalistischen Stil dargestellt von Ivaylo Gruberov, Martin Mairinger, Johannes Schwendinger, Wilhelm Spuller – in die WElt geschickt, damit sie Geld für ein Häuschen in Louisiana verdient. Bill als Anna 1 und Anna 2 – bei der Uraufführung 1933 in Paris von einer Schauspielerin und einer Tänzerin dargestellt – weiß um die Doppelbödigkeit ihres Auftrages, der da heißt: Die 7 Todsünden zu vermeiden. Doch wenn Sünden zu Tugenden werden, weil damit Geld zu verdienen ist, dann ist alles anders: Die Liebe muss bezahlt werden, dann ist sie wertvoll, Gemeinheiten und Zorn sind nützlich, wenn sie zur Wertvermehrung beitragen. Anna durchreist die Stationen der 7 Todsünden in einer doppelbödigen Hellsichtigkeit, wissend, dass sie tun muss, was sie tut, weil die Gesellschaft -sprich die „Familie“ es so verlangt, aber auch wissend, wie sehr ihre Seele – Anna 2 – darunter leidet.

Unter der Leitung von Milan Turkovic spielt das Orchester der Vereinigten Bühnen Wien flott und mitreisßend, ganz im Stil der 30er Jahre.

Ein Wort noch zu dem großartig gemachten Programm, das den Abend interessant komplettiert: Zu jeder Todsünde gibt es  themenbezogene Werke aus der bildenden Kunst, wie etwa Auszüge aus Bildern von H.Bosch oder Kubin. Dazu passend aktuelle, auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft bezogene Interpretationen der so genannten 7 Todsünden, die heute ja alle bis auf die Trägheit zu Tugenden umgeformt wurden.

Unbedingt ansehen. Die nächsten Vorstellungen: 20., 24. November